Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
getauscht hatten. Als ihre Gesichter wieder voneinander abließen, seufzten beide tief. Der Vogel erschrak und flog mit einem Flügelschwirren davon.
    Winston legte die Lippen an ihr Ohr. »Komm!« flüsterte er.
    »Nicht hier«, flüsterte sie zurück. »Gehen wir wieder in die Lichtung zurück. Dort ist es sicherer.«
    Rasch bahnten sie sich, während die Zweige hin und wieder knackten, ihren Weg zu der Lichtung 56
    George Orwell – 1984
    zurück. Sobald sie in dem von Tannenbäumchen umgebenen Rund angelangt waren, drehte sie sich um und sah ihn an. Beide atmeten heftig, aber das Lächeln um ihre Mundwinkel war wieder erschienen. Sie stand da und sah ihn einen Augenblick an, dann tastete sie nach dem Reißverschluß des Trainingsanzuges. Und wahrhaftig – es war fast wie ein Traum! Fast ebenso schnell wie in seiner Phantasie hatte sie sich die Kleider vom Leibe gerissen und schleuderte sie beiseite, mit der gleichen herrlichen Bewegung, als ob damit eine ganze Zivilisation weggewischt zu werden schien. Ihr Körper schimmerte weiß in der Sonne. Doch einen Augenblick lang blickte er nicht auf ihren Körper; seine Augen waren von dem sommersprossigen Gesicht mit seinem leisen, kecken Lächeln gefangen. Er kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hände in seine.
    »Hast du das schon früher getan?«
    »Natürlich. Schon hundertmal – oder jedenfalls sehr oft.«
    »Mit Parteiangehörigen?«
    »Ja, immer mit Parteiangehörigen.«
    »Mit Leuten aus der Inneren Partei?«
    »Nein, nicht mit diesen Schweinen. Trotzdem gibt es natürlich viele, die das möchten, wenn sich ihnen nur halbwegs eine Möglichkeit bieten würde. Sie sind nicht so heilig, wie sie tun.«
    Sein Herz jubelte. Sie hatte es schon so oft getan; er wünschte sich, es wäre hundert- oder tausendmal gewesen. Alles, was auf Verderbtheit hinwies, erfüllte ihn immer wieder mit einer wilden Hoffnung. Wer weiß, vielleicht war die Partei unter ihrer Oberfläche faul und angekränkelt, vielleicht war ihr Kult von Tüchtigkeit und Selbstkasteiung einfach ein Schwindel, hinter dem sich das Laster verbarg. Was hätte er darum gegeben, die ganze Bande mit Lepra oder Syphilis anzustecken! Alles, was zur Verrottung beitrug, was schwächte, unterminierte! Er zog sie zu sich herunter, so daß sie von Angesicht zu Angesicht knieten.
    »Hör zu. Je mehr von ihnen du gehabt hast, desto mehr liebe ich dich. Begreifst du das?«
    »Vollkommen.«
    »Ich hasse die Unschuld, ich hasse das Bravsein! Ich will nicht, daß es noch irgendwo eine Tugend gibt.
    Ich will, daß alle Leute bis ins Mark verderbt sind.«
    »Nun, dann dürfte ich die Richtige für dich sein, Liebling. Ich bin bis ins Mark verderbt.«
    »Tust du es gerne? Ich meine, nicht nur mit mir: sondern einfach die Sache an sich?«
    »Ich finde es herrlich.«
    Das wollte er vor allem hören. Nicht nur die Liebe zu einem Menschen, sondern der animalische Trieb, die einfache, blinde Begierde: Das war die Kraft, die die Partei in Stücke sprengen würde. Er zog sie ins Gras, zwischen die herabgefallenen Glockenblumen. Diesmal stand keine Hemmung im Wege. Dann verlangsamte sich das Auf und Ab ihrer Brust zu normalem Rhythmus, und in seliger Hilflosigkeit sanken sie auseinander. Die Sonne schien heißer geworden. Sie waren beide schläfrig. Er streckte die Hand nach dem abgeworfenen Trainingsanzug aus und deckte sie, so gut es ging, damit zu. Fast gleich darauf schlummerten sie ein und lagen etwa eine halbe Stunde lang im Schlaf.
    Winston erwachte zuerst. Er setzte sich auf und betrachtete das sommersprossige Gesicht, das noch friedlich schlafend auf ihren Handteller gebettet dalag. Von ihrem Mund abgesehen, konnte man Julia eigentlich nicht schön nennen. Um die Augen herum waren ein oder zwei Krähenfüße, wenn man genau hinsah. Das kurze dunkle Haar war ungewöhnlich dicht und weich. Es fiel ihm ein, daß er noch immer nicht ihren Nachnamen und ihre Adresse wußte.
    Der junge, kräftige Körper, der jetzt im Schlaf so hilflos dalag, weckte in ihm ein mitleidiges Beschützergefühl. Aber die unbewußte Zärtlichkeit, die er unter dem Haselnußstrauch, beim Lied der Drossel empfunden hatte, wollte sich nicht wieder genauso einstellen. Er schob den Trainingsanzug beiseite und betrachtete nachdenklich ihren weißen, weichen Leib. Früher, mußte er denken, sah ein Mann den Leib eines Mädchens an und fand ihn begehrenswert, und damit Schluß! Aber heutzutage gab es so etwas wie eine reine Liebe oder reine Lust überhaupt

Weitere Kostenlose Bücher