1984
nachgab.
»Doch nicht etwa Zucker?« fragte er.
»Echter Zucker. Kein Sacharin, sondern Zucker. Und hier ist ein Laib Brot – richtiges Weißbrot, nicht unser elender Dreck – und ein Töpfchen Marmelade. Und da ist eine Dose Milch – aber jetzt paß auf! Darauf bin ich wirklich stolz. Ich mußte es in ein Stück Sackleinwand einwickeln, weil –«
Aber sie brauchte ihm nicht zu sagen, warum sie es eingewickelt hatte. Der Duft erfüllte bereits das Zimmer, ein reicher, würziger Duft, der wie ein Hauch aus seiner Kindheit war, dem man aber auch heute noch begegnete, wenn er manchmal durch eine Gasse zog, ehe irgendeine Tür ins Schloß fiel, oder in einer verkehrsreichen Straße in der Luft hing, einem einen Augenblick in die Nase stieg und sich dann wieder verflüchtigte.
»Kaffee«, murmelte er, »echter Kaffee.«
»Es ist Kaffee für die Innere Partei. Ich habe ein ganzes Kilo davon mit«, sagte sie.
»Wie bist du zu all diesen Dingen gekommen?«
»Es sind alles Sachen für die Innere Partei. Es gibt nichts, was diese Schweine nicht haben; einfach nichts.
Aber natürlich klauen die Kellner, die Dienstboten und die Angestellten, und . . . schau her, ich habe auch ein Päckchen Tee.«
Winston hatte sich eben niedergehockt. Er riß eine Ecke des Päckchens auf.
»Echter Tee! Keine Brombeerblätter!«
»Es gab in letzter Zeit haufenweise Tee. Sie haben Indien erobert oder so etwas Ähnliches«, sagte sie beiläufig. »Aber hör zu, Liebster. Tu mir den Gefallen und dreh dich drei Minuten um. Geh und setz dich auf die andere Seite vom Bett. Tritt nicht zu nah ans Fenster. Und dreh dich nicht um, ehe ich dir's nicht sage.«
Winston starrte versunken durch den Musselinvorhang hindurch. Unten im Hof ging die Frau mit den geröteten Armen noch immer zwischen dem Waschzuber und der Wäscheleine hin und her. Sie nahm gerade wieder zwei Klammern aus dem Mund und sang mit gefühlvoller Stimme:
»Man sagt, die Zeit heile alles,
Es heißt, man kann alles vergessen,
Aber vom Schmerz meines Falles,
Von dem bleib' ich ewig besessen!«
Sie schien das ganze törichte Lied auswendig zu können. Ihre Stimme schwebte sehr melodisch mit dem lauen Sommerlüftchen daher, von einer Art glücklicher Melancholie erfüllt. Man hatte das Gefühl, es hätte der Frau nichts ausgemacht, wenn der Juniabend nie ein Ende gehabt und der Wäschevorrat unerschöpflich gewesen wäre, und wenn sie tausend Jahre so weitermachen konnte: Kinderwindeln aufhängen und kitschige Lieder dabei singen. Dabei fiel ihm ein, daß er merkwürdigerweise nie ein Parteimitglied allein und spontan hatte singen hören. Es hätte sogar ein wenig unorthodox, wie eine gefährliche Schrullenhaftigkeit gewirkt, so als ob man Selbstgespräche führte. Vielleicht mußten die Menschen erst nahe am Verhungern sein, um für sich allein singen zu können.
64
George Orwell – 1984
»Jetzt darfst du dich umdrehen«, sagte Julia.
Er drehte sich um und hätte sie eine Sekunde lang fast nicht erkannt. Eigentlich hatte er erwartet, sie nackt vor sich zu sehen. Aber sie war nicht nackt. Ihre Verwandlung war viel erstaunlicher. Sie hatte sich geschminkt.
Sie mußte in einen Laden in den Prolesvierteln geschlüpft sein und eine ganze Ausrüstung von Toilettenartikeln gekauft haben.
Ihre Lippen waren tiefrot, ihre Wangen bedeckte ein Hauch von Rouge, ihre Nase war gepudert; sogar unter die Augen war irgend etwas getupft, das sie glänzender erscheinen ließ. Es war nicht sehr geschickt gemacht, aber Winstons Ansprüche in diesen Dingen waren keineswegs hochgeschraubt. Er hatte nie zuvor ein weibliches Parteimitglied geschminkt gesehen oder es sich auch nur geschminkt vorstellen können.
Julias Erscheinung hatte sich in verblüffender Weise verschönt. Mit nur wenigen Farbstrichen an den richtigen Stellen war sie nicht nur sehr viel hübscher, sondern vor allem viel weiblicher geworden. Ihr kurzes Haar und der knabenhafte Trainingsanzug erhöhten nur die Wirkung. Als er sie in seine Arme schloß, stieg ihm eine Welle synthetischen Veilchendufts in die Nase. Er erinnerte sich an das Halbdunkel einer Wohnküche im Erdgeschoß und an die schwarze Mundhöhle einer Frau. Genau das gleiche Parfüm hatte sie benutzt; aber im Augenblick schien das nichts auszumachen.
»Parfüm auch!« rief er aus.
»Ja, Liebster, auch Parfüm. Und weißt du, was ich als nächstes mache? Ich versuche, irgendwo einen richtigen Frauenrock aufzutreiben, und ziehe ihn mir anstatt dieser
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