Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
scheußlichen Hosen an. Ich werde seidene Strümpfe tragen und Schuhe mit hohen Absätzen! In diesem Zimmer will ich eine Frau sein, keine Parteigenossin.«
    Sie streiften ihre Kleider ab und stiegen in das riesige Mahagonibett. Er zog sich zum erstenmal in ihrer Gegenwart ganz aus. Bisher hatte er sich zu sehr seines bleichen, mageren Körpers mit den an den Waden hervortretenden Krampfadern und dem entfärbten Fleck über seinem Fußknöchel geschämt. Das Bett hatte kein Laken, aber die Wolldecke, auf der sie lagen, war dünn und weich, und die Größe und Federung des Bettes erstaunte sie beide. »Es wimmelt sicher von Wanzen, aber wen kümmert das schon?« sagte Julia. Man sah heutzutage nirgendwo Doppelbetten, außer in den Wohnungen der Proles. Winston hatte in seiner Knabenzeit gelegentlich in einem geschlafen; Julia hatte noch nie zuvor in einem gelegen, soweit sie sich erinnern konnte.
    Sie sanken gleich für eine Weile in Schlummer. Als Winston aufwachte, waren die Zeiger der Uhr bis fast auf neun vorgerückt. Er rührte sich nicht, denn Julia schlief noch, ihren Kopf in die Biegung seines Armes gebettet. Der größte Teil der Schminke hatte sich auf sein Gesicht und das Kissen übertragen, aber ein zarter roter Fleck betonte noch immer die Schönheit ihrer Wange. Ein goldgelber Strahl der untergehenden Sonne glitt über das Bettende und fiel auf den Kocher, auf dem das Wasser lebhaft sprudelte. Drunten im Hof hatte die Frau zu singen aufgehört, aber gedämpfte Kinderrufe drangen von der Straße herein. Er fragte sich verschwommen, ob es wohl in der verpönten Vergangenheit ein normales Erlebnis gewesen war, als Mann und Frau so in der Kühle des Sommerabends unbekleidet im Bett zu liegen, der Liebe zu frönen, wenn man Lust dazu verspürte, zu sprechen, was einem gerade einfiel, nicht zum Aufstehen gezwungen zu sein, sondern einfach dazuliegen und den friedvollen Geräuschen von draußen zu lauschen. Konnte es einmal eine Zeit gegeben haben, wo das selbstverständlich schien? Julia erwachte, rieb sich die Augen und richtete sich auf den Ellenbogen auf, um nach dem Petroleumkocher zu sehen.
    »Das halbe Wasser ist verkocht«, sagte sie. »Ich stehe gleich auf und mache Kaffee. Wir haben noch eine Stunde Zeit. Wann wird in eurem Block das Licht ausgeschaltet?«
    »Um dreiundzwanzig Uhr dreißig.«
    »Im Heim um dreiundzwanzig Uhr. Aber man muß schon früher zu Hause sein, weil . . . Huch! Mach, daß du wegkommst, du Biest!«
    Sie machte plötzlich eine Drehung im Bett, hob einen Schuh vom Boden auf und warf ihn wuchtig mit einer jungenhaften Armbewegung in die Ecke, mit der gleichen Bewegung, mit der er sie an jenem Vormittag während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung das Wörterbuch nach Goldstein hatte schleudern sehen.
    »Was ist los?« fragte er erstaunt.
    »Eine Ratte. Ich sah, wie sie ihre ekelhafte Schnauze hinter der Holzleiste hervorstreckte. Dort drüben ist ein Loch. Jedenfalls habe ich ihr einen tüchtigen Schrecken eingejagt.«
    »Ratten!« murmelte Winston. »In diesem Zimmer!«
    65
    George Orwell – 1984
    »Sie treiben sich überall herum«, sagte Julia gleichgültig, während sie sich wieder hinlegte. »Im Heim haben wir sogar welche in der Küche. In manchen Teilen Londons wimmelt es von ihnen. Wußtest du, daß sie an kleine Kinder herangehen? Doch, bestimmt, das tun sie. In manchen von diesen Straßen wagen die Frauen ihre Kinder nicht zwei Minuten allein zu lassen. Die großen braunen machen das. Und das Scheußlichste ist, daß die Biester . . .«
    »Hör auf!« sagte Winston, die Augen fest geschlossen.
    »Liebster! Du bist ja ganz blaß geworden. Was fehlt dir? Wird dir von ihnen schlecht?«
    »Von allen Scheußlichkeiten der Welt sind Ratten . . .«
    Sie preßte sich eng an ihn und umschlang ihn mit ihren Gliedern, wie um ihn mit der Wärme ihres Körpers zu beruhigen. Er öffnete die Augen nicht gleich wieder. Ein paar Augenblicke lang hatte er das Gefühl gehabt, von neuem in den Angsttraum versetzt zu werden, der ihn sein ganzes Leben hindurch von Zeit zu Zeit verfolgt hatte. Es war immer so ziemlich dasselbe. Er stand vor einer Mauer aus Dunkelheit, jenseits der etwas Unerträgliches lauerte, etwas, das zu schrecklich war, um seinen Anblick noch erträglich sein zu lassen. Im Traum war dabei sein tiefstes Gefühl immer, daß er sich etwas vormachte, daß er in Wirklichkeit genau wußte, was hinter der dunklen Mauer war. Mit einer unerhörten Anstrengung, als reiße er sich ein

Weitere Kostenlose Bücher