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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Stück aus dem eigenen Gehirn, hätte er das Verborgene sogar ans Licht zerren können. Er wachte immer auf, ohne zu erfahren, was es eigentlich war: aber irgendwie hing es damit zusammen, wovon Julia gesprochen hatte, als er sie unterbrach.
    »Verzeih«, sagte er, »es ist nichts. Ich kann nun einmal Ratten nicht ausstehen, das ist alles.«
    »Mach dir keine Sorgen, Liebster, wir werden die elenden Biester hier nicht hereinlassen. Ich werde das Loch mit etwas Sackleinen zustopfen, bevor wir gehen. Und wenn wir das nächste Mal herkommen, bring ich Gips mit und schmiere es ordentlich zu.«
    Schon war der dunkle Augenblick der Panik halb vergessen. Etwas beschämt über sich selbst setzte er sich auf, gegen das Kopfteil des Bettes gestützt. Julia stand auf, zog ihren Trainingsanzug an und machte den Kaffee. Der aus dem Topf aufsteigende Duft war so stark und betäubend, daß sie die Fenster schlössen, damit niemand draußen es merken und vielleicht neugierig werden konnte. Doch fast noch besser als der Geschmack des Kaffees war die seidige Weiche, die ihm der Zucker verlieh, etwas, das Winston nach Jahren des Sacharins nahezu vergessen hatte. Eine Hand in der Tasche, in der anderen ein Marmeladebrot, ging Julia im Zimmer umher, betrachtete gleichgültig das Büchergestell, zeigte ihm, wie man den Klapptisch am besten reparieren könnte, ließ sich in den abgenutzten Lehnstuhl fallen, um zu sehen, ob er bequem war, und untersuchte mit einem nachsichtigen Lächeln die komische zwölfziffrige Uhr. Sie brachte den gläsernen Briefbeschwerer herüber ans Bett, um ihn bei besserem Licht betrachten zu können. Er nahm ihn ihr aus der Hand, wie immer fasziniert von der gedämpften, regenwasserartigen Beschaffenheit des Glases.
    »Wozu ist das deiner Ansicht nach?« fragte Julia.
    »Ich glaube, es hat kein ›Wozu‹ – ich meine, ich glaube nicht, daß es jemals einem Zweck gedient hat.
    Das mag ich so gerne daran. Es ist ein Stückchen Geschichte, das sie zu verfälschen vergessen haben. Es ist, wenn man sie zu lesen versteht, eine Botschaft aus der Zeit vor hundert Jahren.«
    »Und dieses Bild dort drüben« – sie deutete mit dem Kopf nach dem Stich an der gegenüberliegenden Wand –, »ist das auch hundert Jahre alt?«
    »Noch mehr. Zweihundert würde ich sagen. Man weiß es nicht. Man kann heutzutage unmöglich das Alter irgendeiner Sache festhalten.«
    Sie ging hinüber, um es näher zu betrachten. »Da hat das Biest seine Nase herausgestreckt«, sagte sie dabei und versetzte gerade unter dem Bild der Holzleiste einen Tritt. »Was ist das für ein Gebäude? Ich habe es schon irgendwo gesehen.«
    »Eine Kirche – jedenfalls war es früher eine. St. Clement's Dane hieß sie.« Die Verszeile, die Mr.
    Charrington ihn gelehrt hatte, fiel ihm wieder ein, und er fügte halb sehnsüchtig hinzu: »Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's!«
    Zu seinem Erstaunen ergänzte sie den Reim:
    »›You owe me three farthings,
    Say the bells of St. Martin's,
    When will you pay me?
    Say the bells of Old Bailey –‹
    66
    George Orwell – 1984
    Ich weiß nicht, wie es danach weitergeht. Aber jedenfalls erinnere ich mich, wie es schließt: ›Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head!‹ «
    Es war wie die zwei Stichworte eines Erkennungszeichens. Aber es mußte nach »the bells of Old Bailey«
    noch ein anderer Vers kommen. Vielleicht konnte man ihn aus Mr. Charringtons Erinnerung ausgraben, wenn er gerade in der richtigen Stimmung war.
    »Wer hat dir das beigebracht?« fragte er.
    »Mein Großvater. Er sagte es mir immer vor, als ich ein kleines Mädchen war. Er wurde vaporisiert, als ich acht Jahre alt war – jedenfalls verschwand er spurlos. Ich würde gern wissen, was eine Zitrone ist«, fügte sie sprunghaft hinzu. »Orangen habe ich gesehen. Es sind so runde gelbe Früchte mit einer dicken Schale.«
    »Ich kann mich auch noch auf Zitronen besinnen«, sagte Winston. »Sie waren in den fünfziger Jahren etwas ganz Gewöhnliches. Sie waren so sauer, daß schon allein beim Riechen der Mund zusammengezogen wurde.«
    »Ich wette, hinter diesem Bild sind Wanzen«, sagte Julia. »Ich werde es gelegentlich herunternehmen und tüchtig saubermachen.
    Ich glaube, es ist langsam Zeit zum Aufbrechen. Ich muß anfangen, mir diese Schminke abzuwaschen.
    Wie schade! Hinterher werde ich dir den Lippenstift vom Gesicht abwischen.«
    Winston blieb noch ein paar Minuten länger liegen. Im

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