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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Zwangsarbeitslager verschickt worden war. Was seine Schwester anbetraf, so konnte sie, wie Winston selbst, in ein Heim für elternlose Kinder (Auffanglager zur Ertüchtigung wurden sie genannt) gesteckt worden sein, die als eine Folge des Bürgerkriegs entstanden waren; vielleicht war sie auch zusammen mit der Mutter in ein Arbeitslager verschickt oder einfach irgendwo sich selbst und dem Tod überlassen worden.
    Sein Traum stand noch ganz frisch in seinem Gedächtnis, vor allem die einhüllende, schützende Armbewegung, in der die tiefere Bedeutung enthalten zu sein schien. Es fiel ihm ein anderer Traum ein, den er vor zwei Monaten gehabt hatte. Darin hatte seine Mutter genau wie hier mit dem fest an sie geklammerten Kind auf dem armseligen Bett mit der weißen Decke, tief unter ihm, und mit jedem Augenblick noch tiefer versinkend, in einem untergehenden Schiff gesessen und ihn unverwandt durch das immer dunkler werdende Wasser angeblickt.
    Er erzählte Julia die Geschichte von dem Verschwinden seiner Mutter. Ohne die Augen aufzumachen, wälzte sie sich in eine bequemere Lage.
    »Vermutlich warst du damals ein widerliches kleines Miststück«, sagte sie ausdruckslos. »Alle Kinder sind Miststücke.«
    »Ja, aber der springende Punkt an der Geschichte . . .«
    An ihren Atemzügen war zu merken, daß sie wieder im Begriff war einzuschlafen. Er hätte gerne weiter von seiner Mutter gesprochen. Nach allem, was er von ihr behalten konnte, nahm er nicht an, daß sie eine ungewöhnliche, geschweige denn eine besonders intelligente Frau gewesen war. Und doch war an ihr etwas Edles, eine Art von Lauterkeit, ganz einfach, weil sie sich selber treu geblieben war. Ihre Gefühle kamen tief aus ihrem Inneren und konnten nicht von außen her verändert werden. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, eine Handlung für bedeutungslos zu halten, weil sie keinen praktischen Zweck hatte. Wenn man jemanden liebte, so liebte man ihn, und wenn man ihm schon nichts anderes zu geben hatte, so schenkte man ihm seine Liebe. Als das letzte Stückchen Schokolade fort war, hatte seine Mutter das Kind in ihre Arme geschlossen. Das hatte keinen Zweck, änderte nichts, schaffte nicht mehr Schokolade herbei, konnte weder den Tod des Kindes noch ihren eigenen verhindern. Aber ihr schien es das Natürliche, so zu handeln. Die Flüchtlingsfrau in dem Boot hatte auch den kleinen Jungen mit ihren Armen gegen den Kugelregen abgeschirmt, was nicht mehr ausrichten konnte als ein Blatt Papier. Die Partei aber suchte einem mit teuflischer Gewalt einzureden, bloße Regungen des Gefühls seien ohne Bedeutung, während sie einen gleichzeitig aller, materiellen Freuden des Lebens beraubte. War man erst einmal in ihren Klauen, so bestand buchstäblich kein Unterschied mehr, ob man etwas fühlte oder nicht fühlte, was man tat oder was man unterließ. Was auch geschehen war, eines Tages verschwand man von der Bildfläche, und weder von dem einzelnen Menschen noch von dem, was er getan, war jemals wieder etwas zu hören. Man wurde einfach aus der Geschichte gestrichen. Zwei Generationen früher wäre das dem Menschen nicht so ungeheuer wichtig vorgekommen, denn damals versuchten sie nicht, die Geschichte zu ändern. Sie ließen sich durch selbstauferlegte Sittengesetze lenken, die von ihnen nicht in Frage gestellt wurden. Wichtig waren nur menschliche Beziehungen: eine vollkommen zweckfreie Tat, eine Umarmung, eine Träne, ein zu einem Sterbenden gesprochenes Trostwort konnten an sich wertvoll sein. Die Proles, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, hatten sich diesen Zustand bewahrt. Sie waren nicht einer Partei oder einem Land oder einer Idee ergeben, sondern sich selber treu. Zum erstenmal in seinem Leben verachtete er die Proles nicht, dachte an sie nicht lediglich als an eine dumpfe Kraft, die eines Tages erwachen und die Welt erneuern würde. Die 74
    George Orwell – 1984
    Proles waren menschlich geblieben. Sie waren nicht innerlich verhärtet. Sie hatten sich die primitiven Gefühle erhalten, die er mit bewußtem Bemühen wiedererlernen mußte. Und bei diesen Überlegungen fiel ihm ohne erkennbaren Zusammenhang ein, wie er vor ein paar Wochen eine abgerissene Hand auf dem Pflaster liegen gesehen und sie mit einem Fußtritt in den Rinnstein geschleudert hatte, als wäre sie ein Kohlstrunk gewesen.
    »Die Proles sind Menschen«, sagte er laut. »Wir sind keine Menschen.«
    »Warum nicht?« fragte Julia, die wieder aufgewacht war.
    Er dachte eine Weile nach. »Ist

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