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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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dir je bewußt geworden«, sagte er, »daß es für uns das beste wäre, einfach hier wegzugehen, bevor es zu spät ist, und einander nie mehr wiederzusehen?«
    »Ja, Lieber, ich habe manchmal daran gedacht. Aber trotzdem tue ich es nicht.«
    »Wir hatten bis jetzt Glück, aber es kann nicht mehr lange so weitergehen. Du bist jung. Du siehst vorschriftsmäßig und harmlos aus. Wenn du Menschen wie mir aus dem Wege gehst, bleibst du vielleicht noch fünfzig Jahre am Leben.«
    »Nein. Ich habe mir alles überlegt. Was du tust, das tue ich auch. Und sieh bitte nicht zu schwarz. Ich bin recht geschickt darin, am Leben zu bleiben.«
    »Wir können vielleicht noch weitere sechs Monate – vielleicht noch ein Jahr – beisammen bleiben, man kann es nicht wissen. Zum Schluß werden wir mit Gewißheit getrennt. Bist du dir bewußt, wie schrecklich allein wir sein werden? Wenn sie uns erst einmal in den Klauen haben, gibt es nichts, buchstäblich nichts, was wir füreinander tun könnten. Wenn ich ein Geständnis ablege, erschießen sie dich, und wenn ich mich zu gestehen weigere, erschießen sie dich genauso. Nichts, was ich mir zu tun oder zu sagen oder zu verschweigen vornehmen kann, kann deinen Tod auch nur um fünf Minuten hinausschieben. Wir werden nicht einmal voneinander wissen, ob wir noch leben oder schon tot sind. Wir werden vollkommen machtlos sein. Wenn auch selbst das nicht den geringsten Unterschied ausmacht, so kommt es doch einzig und allein darauf an, daß wir einander nicht verraten.«
    »Wenn du damit das Geständnis meinst«, sagte sie, »so werden wir es nur allzu bald ablegen. Alle gestehen sie. Man kann nichts dagegen machen. Sie foltern einen.«
    »Ich meine nicht: gestehen. Ein Geständnis ist kein Verrat. Was man sagt oder tut, ist nicht wichtig: es kommt darauf an, was man fühlt. Wenn sie mich soweit brächten, dich nicht mehr zu lieben – das wäre wirklicher Verrat.«
    Sie überlegte. »Das bringen sie nicht fertig«, sagte sie schließlich. »Das ist das einzige, was sie nicht können. Sie können dich zwingen, alles zu sagen – alles –, aber sie können dich nicht zwingen, es zu glauben.
    Sie haben keine Macht über dein Inneres.«
    »Nein«, gab er ein wenig hoffnungsvoller zu, »nein, das ist wirklich wahr. Sie haben keine Macht über dein Inneres. Wenn du fühlen kannst, daß es sich lohnt, ein Mensch zu bleiben, sogar wenn damit praktisch nichts erreicht wird, hast du ihnen doch ein Schnippchen geschlagen.«
    Er dachte an den Televisor mit seinem nimmer ruhenden Ohr. Sie konnten einen Tag und Nacht bespitzeln, aber wenn man auf seiner Hut war, konnte man sie überlisten. Bei all ihrer Schlauheit hatten sie doch nicht das Geheimnis gelöst, die Gedanken eines anderen aufzuspüren. Vielleicht war es anders, wenn man ihnen tatsächlich in die Hände gefallen war. Man wußte nicht, was innerhalb des Liebesministeriums vor sich ging, aber man konnte es erraten: Folterungen, Drohungen, hochempfindliche Apparate, um die Reaktion der Nerven zu registrieren, langsames Mürbemachen durch Schlafentzug, Einzelhaft und Dauerverhöre. Tatsachen jedenfalls konnte man nicht geheim halten. Sie konnten durch Nachforschungen festgestellt, konnten durch Foltern aus einem herausgepreßt werden. Wenn es aber darum ging, nicht etwa am lieben, sondern ein Mensch zu bleiben, welchen Unterschied machte das dann letzten Endes aus? Sie konnten die Gefühle eines Menschen nicht ändern; ja, man konnte sie nicht einmal selbst ändern, sogar wenn man es wollte. Sie konnten bis zur letzten Einzelheit alles aufdecken, was man getan, gesagt oder gedacht hatte. Aber die innerste Kammer des Herzens, deren Regungen sogar für einen selbst ein Geheimnis waren, blieb unbezwinglich.
    75
    George Orwell – 1984
    Achtes Kapitel
    Sie hatten es getan, sie hatten es endlich getan!
    Das Zimmer, in dem sie standen, war länglich und sanft beleuchtet. Der Televisor war zu einem leisen Gemurmel gedämpft; die Üppigkeit des dunkelblauen Teppichs erweckte in einem den Eindruck, als trete man auf Samt. Am anderen Ende des Raumes saß O'Brien an einem Tisch unter einer grün abgeschirmten Lampe, mit einer Menge Papiere zu beiden Seiten vor sich. Er hatte nicht einmal aufgeblickt, als der Diener Julia und Winston hereinführte.
    Winstons Herz klopfte so heftig, daß er zweifelte, ob er würde sprechen können. Sie hatten es getan, sie hatten es endlich getan – war alles, was er denken konnte. Es war ein waghalsiges Unternehmen gewesen,

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