1984
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gewachsen sind, daß sie einander nicht verletzen können. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist er doch nicht zwecklos. Durch ihn wird der Überschuß von Gebrauchsgütern verbraucht, und er hilft die besondere geistige Atmosphäre aufrechtzuerhalten, die eine hierarchische Gesellschaftsordnung braucht.
Der Krieg ist jetzt, wie man sehen wird, eine rein innenpolitische Angelegenheit. In der Vergangenheit kämpften die herrschenden Gruppen aller Länder, wenn sie auch ihr gemeinsames Interesse erkennen und deshalb die Zerstörungswirkung des Krieges beschränken mochten, doch eine gegen die andere, und immer brandschatzte der Sieger den Besiegten. Heutzutage kämpfen sie überhaupt nicht gegeneinander. Der Krieg wird von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Anhänger geführt, und das Kriegsziel ist nicht, Gebietseroberungen zu machen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zu erhalten.
Infolgedessen ist schon das Wort »Krieg« irreführend geworden. Es wäre vermutlich richtig zu sagen, der Krieg habe dadurch, daß er ein Dauerzustand wurde, aufgehört zu existieren. Der charakteristische Druck, den er zwischen dem späteren Steinzeitalter und dem anfänglichen zwanzigsten Jahrhundert auf die Menschen ausgeübt hat, ist verschwunden und wurde durch etwas ganz anderes ersetzt. Die Wirkung wäre die gleiche, wenn die drei Superstaaten, anstatt einander zu bekämpfen, übereinkämen, in dauerndem Friedenszustand zu leben, wobei jeder unangefochten innerhalb seiner eigenen Grenzen bleibt. Denn in diesem Falle wäre jeder eine in sich abgeschlossene Welt, für immer von dem hemmenden Einfluß einer von außen drohenden Gefahr befreit. Ein wirklich dauerhafter Friede wäre das gleiche wie dauernder Krieg. Das ist – wenn auch die große Mehrheit der Parteimitglieder es nur in einem seichteren Sinne versteht – der tiefere Sinn des Parteischlagwortes: Krieg bedeutet Frieden .
Winston unterbrach einen Augenblick seine Lektüre. Irgendwo in weiter Ferne donnerte eine Raketenbombe. Das Glücksgefühl, mit dem verbotenen Buch allein in einem Zimmer zu sein, in dem es keinen Televisor gab, hatte ihn noch nicht verlassen. Einsamkeit und Geborgenheit waren Wohltaten, die sich irgendwie mit der Müdigkeit seines Körpers, der Weichheit des Stuhles, dem durchs Fenster kommenden leisen Luftzug, der seine Wange streichelte, vermischten. Das Buch fesselte oder, genauer gesagt, beruhigte ihn. In gewissem Sinne sagte es ihm nichts Neues, aber das gehörte zu seinem besonderen Reiz. Es schilderte, was auch er gesagt hätte, wenn er seine wirren Gedanken hätte ordnen können. Es war das Produkt eines Geistes, der dem seinigen ähnelte, nur daß er viel, viel stärker, systematischer und weniger verängstigt war. Die besten Bücher, erkannte er, sind die, welche einem vor Augen führen, was man bereits weiß. Er hatte gerade zum ersten Kapitel zurückgeblättert, als er Julias Schritte auf der Treppe hörte und von seinem Stuhl aufsprang, um sie zu empfangen. Sie stellte ihre braune Werkzeugtasche auf den Boden ab und warf sich in seine Arme. Es war mehr als eine Woche her, seitdem sie einander zuletzt gesehen hatten.
»Ich habe das Buch «, sagte er, als sie sich voneinander freimachten.
»So, hast du's? Schön«, sagte sie ohne viel Interesse und kniete fast sogleich neben dem Petroleumkocher nieder, um Kaffee zu machen.
Sie kamen erst wieder auf das Thema zurück, als sie bereits eine halbe Stunde im Bett lagen. Der Abend war gerade kühl genug, daß es sich lohnte, die Steppdecken hochzuziehen. Von drunten erscholl der vertraute Gesang und das Scharren von Schuhen auf den Steinplatten. Die muskulöse Frau mit den roten Armen, die Winston bei seinem ersten Besuch dort gesehen hatte, war fast ein Inventarstück des Hofes. Es schien keine Tagesstunde zu geben, zu der sie nicht zwischen Waschzuber und Wäscheleine hin und her ging, wobei sie sich abwechselnd mit Wäscheklammern den Mund vollstopfte und schmalzige Lieder anstimmte. Julia hatte sich auf die Seite gekuschelt und schien bereits im Begriff einzuschlafen. Er griff nach dem Buch, das auf dem Fußboden lag, und setzte sich, gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt, auf.
»Wir müssen es lesen«, sagte er. »Du auch. Alle Mitglieder der Brüderschaft müssen es lesen.«
»Lies du es«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Lies es laut vor. Das ist die beste Methode. Dann kannst du es mir gleich dabei erklären.«
Die
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