1984
Uhrzeiger deuteten auf sechs, was soviel hieß wie achtzehn Uhr. Sie hatten noch drei oder vier Stunden vor sich. Er stützte das Buch gegen seine Knie und begann zu lesen:
1. Kapitel
Unwissenheit ist Stärke
Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz 90
George Orwell – 1984
so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt.
»Julia, bist du noch wach?« fragte Winston.
»Ja, Liebster, ich höre. Lies weiter. Es ist wundervoll.«
Er fuhr zu lesen fort:
Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar. Das Ziel der Oberen ist, sich da zu behaupten, wo sie sind. Das der Mittelklasse, mit den Oberen den Platz zu tauschen. Das der Unteren, wenn sie überhaupt ein Ziel haben – denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der Unteren, daß sie durch die Mühsal zu zermürbt sind, um etwas anderes als hin und wieder ihr Alltagsleben ins Bewußtsein dringen zu lassen –, besteht darin, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der alle Menschen gleich sind. So wiederholt sich die ganze Geschichte hindurch ein in seinen Grundlinien gleicher Kampf wieder und immer wieder. Während langen Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oder später kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihren Selbstglauben oder ihre Fähigkeit, streng zu regieren, oder beides verlieren. Dann werden sie von den Angehörigen der Mittelklasse gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vormachen, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drängen die Angehörigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaftsstellung zurück, und sie selber werden die Oberen.
Bald darauf spaltet sich von einer der anderen Gruppen oder von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt wieder von vorne. Von den drei Gruppen gelingt es nur den Unteren nie, auch nur zeitweise ihre Ziele zu erreichen. Es wäre eine Übertreibung, zu sagen, daß im Verlauf der Geschichte kein materieller Fortschritt erzielt worden sei. Sogar heutzutage, in einer Periode des Niedergangs, ist der Durchschnittsmensch physisch besser daran, als er es vor ein paar Jahrhunderten war. Aber keine Steigerung des Wohlstandes, keine Milderung der Sitten, keine Reform oder Revolution hat die Gleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter nähergebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemals viel anderes bedeutet als eine Änderung der Namen ihrer Herren.
Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Regelmäßigkeit dieses Turnus vielen Beobachtern zum Bewußtsein gekommen. Daraufhin entstanden damals philosophische Richtungen, die die Geschichte als einen sich zyklisch wiederholenden Prozeß auslegten und aufzeigen wollten, daß Ungleichheit ein unabänderliches Gesetz des menschlichen Lebens sei. Diese Lehre hatte natürlich schon immer ihre Anhänger gehabt, aber in der Art und Weise, wie sie jetzt in den Vordergrund trat, äußerte sich ein bezeichnender Wandel. In der Vergangenheit war die Notwendigkeit einer hierarchischen Gesellschaftsform die von den Oberen vertretene Doktrin gewesen. Sie war von Königen, Adeligen und Priestern, den mit der Rechtsprechung Betrauten und ähnlichen Leuten, die von ihnen schmarotzten, gepredigt und gewöhnlich durch Versprechungen einer Vergeltung in einer imaginären Welt jenseits des Grabes schmackhafter gemacht worden. Die Mitte hatte immer, solange sie um die Macht kämpfte, Worte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Munde geführt. Jetzt jedoch begann die Auffassung menschlicher Brüderlichkeit einer Kritik von Menschen unterzogen zu werden, die noch keine herrschende Stellung innehatten, sondern lediglich hofften, bald soweit zu sein. In der Vergangenheit hatte die Mitte
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