1984
Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen, Folterung zur Erpressung von Geständnissen, das Gefangennehmen von Geiseln und die Deportation ganzer Bevölkerungsteile –, nicht nur wieder allgemein, sondern auch von Menschen geduldet und sogar verteidigt, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten.
Erst nach einem Jahrzehnt nationaler Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen in allen Teilen der Welt traten Engsoz und seine Rivalen als sich voll auswirkende politische Doktrinen hervor.
Aber sie waren von den verschiedenen, gewöhnlich totalitär genannten Systemen, die sich früher in diesem Jahrhundert bemerkbar machten, vorangezeigt worden, und die großen Umrisse der Welt, die aus dem herrschenden Chaos hervorgehen würde, waren seit langem offensichtlich gewesen. Was für eine Art von Menschen in dieser Welt die Macht ausüben würde, war gleicherweise offensichtlich gewesen. Die neue Aristokratie setzte sich zum größten Teil aus Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Propagandafachleuten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspolitikern zusammen. Diese Menschen, die aus dem Lohn empfangenden Mittelstand und der gehobenen Arbeiterschaft stammten, waren durch die dürre Welt der Monopol-Industrie und einer zentralisierten Regierung geformt und zusammengeführt worden. Mit ihren Gegenstücken in früheren Generationen verglichen, waren sie weniger besitzgierig, weniger auf Luxus versessen, mehr nach bloßer Macht hungrig, und vor allem sich ihres Handelns mehr bewußt und mehr darauf bedacht, die Opposition zu vernichten.
Dieser letztere Unterschied war grundlegend. Im Vergleich mit der heute herrschenden waren alle Tyranneien der Vergangenheit lau und unwirksam. Die herrschenden Gruppen waren immer bis zu einem gewissen Grade von liberalen Ideen infiziert und damit zufrieden gewesen, überall ein Hintertürchen offen zu lassen, um nur die offenkundige Tat ins Auge zu fassen und sich nicht darum zu kümmern, was ihre Untertanen dachten. Sogar die katholische Kirche des Mittelalters war, nach neuzeitlichen Maßstäben gemessen, duldsam. Ein teilweiser Grund hierfür war, daß in der Vergangenheit keine Regierung die Macht besaß, ihre Bürger unter dauernder Überwachung zu halten. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte es jedoch leichter, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und Film und Radio förderten diesen Prozeß noch weiter. Mit der Entwicklung des Fernsehens und bei dem technischen Fortschritt, der es ermöglichte, mit Hilfe desselben Instruments gleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende.
Jeder Bürger oder wenigstens jeder Bürger, der wichtig genug war, um einer Überwachung für wert befunden zu werden, konnte vierundzwanzig Stunden des Tages den Argusaugen der Polizei und dem Getrommel der amtlichen Propaganda ausgesetzt gehalten werden, während ihm alle anderen Verbindungswege verschlossen blieben. Jetzt, zum erstenmal, bestand die Möglichkeit, allen Untertanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondern auch vollkommene 92
George Orwell – 1984
Meinungsgleichheit aufzuzwingen.
Nach der revolutionären Periode der fünfziger und sechziger Jahre gruppierte sich die menschliche Gesellschaft wie immer wieder in eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht. Aber die neue Oberschicht handelte anders als ihre Vorläufer, nicht aus dem Instinkt heraus, sondern wußte, was nötig war, um ihre Stellung zu behaupten. Man war seit langem dahintergekommen, daß die einzig sichere Grundlage einer Oligarchie im Kollektivismus besteht. Wohlstand und Vorrechte werden am leichtesten verteidigt, wenn sie Gemeinbesitz sind. Die sogenannte »Abschaffung des Privateigentums«, die um die Mitte des Jahrhunderts vor sich ging, bedeutete in der Auswirkung die Konzentration des Besitzes in weit weniger Händen als zuvor; aber mit dem Unterschied, daß die neuen Besitzer eine Gruppe waren, statt eine Anzahl von Einzelmenschen. Als einzelnem gehört keinem Parteimitglied etwas, außer seiner unbedeutenden persönlichen Habe. Kollektiv gehört in Ozeanien der Partei alles, da sie alles kontrolliert und über die Erzeugnisse nach Gutdünken verfügt. In den auf die Revolution folgenden Jahren konnte sie nahezu widerstandslos diese beherrschende Stellung einnehmen, da das ganze Verfahren als eine Kollektivhandlung hingestellt wurde. Man hatte immer angenommen, daß nach der Enteignung der
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