1984
vollkommen einkreist, und dann mit diesem Rivalen einen Freundschaftspakt zu schließen und so viele Jahre friedliche Beziehungen mit ihm zu unterhalten, daß jeder Argwohn einschläft. Während dieser Zeit können mit Atombomben geladene Raketengeschosse an allen strategisch wichtigen Punkten gehortet werden; am Schluß werden sie alle gleichzeitig mit so verheerender Wirkung abgeschossen, daß eine Wiedervergeltung unmöglich gemacht ist.
Dann ist es Zeit, mit der übriggebliebenen Weltmacht in Vorbereitung eines neuen Angriffs einen Freundschaftspakt zu schließen. Dieses Schema ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, ein unmöglich zu verwirklichender Wunschtraum. Außerdem kommt es nie zu Kampfhandlungen, außer in den um den Äquator und den Pol gelegenen umstrittenen Gebieten: nie wird ein Einfall in feindliches Gebiet unternommen. Das erklärt die Tatsache, daß an manchen Stellen die Grenzen zwischen den Super-Staaten willkürlich gezogen sind. Eurasien zum Beispiel könnte leicht die Britischen Inseln, die geographisch einen Bestandteil Europas bilden, erobern. Oder andererseits wäre es für Ozeanien möglich, seine Grenzen bis zum Rhein oder sogar bis zur Weichsel vorzuschieben. Das aber würde das von allen Seiten eingehaltene, wenn auch nie formulierte Prinzip der kulturellen Unantastbarkeit verletzen. Wenn Ozeanien die einstmals als Frankreich und Deutschland bekannten Gebiete eroberte, würde es notwendig werden, entweder die Bewohner auszutilgen – eine praktisch sehr schwierig durchführbare Aufgabe – oder eine Bevölkerung von rund hundert Millionen Menschen zu assimilieren, die, was die technische Entwicklung anbetrifft, ungefähr auf der Stufe von Ozeanien stehen. Das Problem ist für alle drei Superstaaten das gleiche. Es ist für ihre Struktur unbedingt erforderlich, daß kein Kontakt mit Ausländern stattfindet, ausgenommen in beschränktem Maße mit Kriegsgefangenen und farbigen Sklaven. Sogar dem jeweiligen offiziellen Verbündeten wird immer mit dem schwärzesten Verdacht begegnet. Abgesehen von Kriegsgefangenen bekommt der Durchschnittsbürger von Ozeanien nie einen Bewohner Eurasiens oder Ostasiens zu Gesicht, und die Kenntnis fremder Sprachen ist ihm verboten. Wäre es ihm erlaubt, mit Ausländern in Berührung zu kommen, so würde er entdecken, daß sie ganz ähnliche Menschen sind wie er selber und daß das meiste, was man ihm von ihnen erzählt hat, erlogen ist. Die künstlichen Schranken der Welt, in der er lebt, würden fallen, und die Furcht, der Haß und die Selbstgerechtigkeit, von denen seine Moral abhängt, könnten sich verflüchtigen. Man hat deshalb auf allen Seiten erkannt, daß, so oft auch Persien oder Ägypten oder Java oder Ceylon den Besitzer wechseln mögen, die Hauptgrenzen doch nie von etwas anderem als von Bomben überquert werden dürfen.
Dem liegt eine nie laut ausgesprochene, aber stillschweigend erkannte und anerkannte Tatsache zugrunde: nämlich, daß die Lebensbedingungen in allen drei Superstaaten fast genau die gleichen sind. In Ozeanien wird die herrschende Weltanschauung als Engsoz bezeichnet, in Eurasien heißt sie Neo-88
George Orwell – 1984
Bolschewismus, und in Ostasien wird sie durch ein chinesisches Wort ausgedrückt, das gewöhnlich mit Sterbekult übersetzt, vielleicht aber treffender mit Auslöschung des eigenen Ichs wiedergegeben wird. Der Bewohner Ozeaniens darf nichts von den Grundsätzen der beiden anderen Lebensanschauungen wissen, wird aber gelehrt, sie als barbarische Verstöße gegen Moral und gesunden Menschenverstand zu verabscheuen. In Wirklichkeit sind die drei Lebensanschauungen kaum voneinander unterscheidbar, und die gesellschaftlichen Einrichtungen, zu deren Stütze sie dienen, unterscheiden sich überhaupt in keiner Weise. Überall findet sich der gleiche pyramidenförmige Aufbau, die gleiche Verehrung eines halbgöttlichen Führers, die gleichen, durch und für dauernde Kriegführung vorgenommenen Sparmaßnahmen. Daraus folgt, daß die drei Superstaaten nicht nur einander nicht überwinden können, sondern auch keinen Vorteil davon hätten. Im Gegenteil, solange sie in gespanntem Verhältnis zueinander stehen, stützen sie sich gegenseitig wie drei aneinander gelehnte Getreidegarben. Und wie gewöhnlich, sind sich die herrschenden Gruppen aller drei Mächte dessen, was sie tun, gleichzeitig bewußt und nicht bewußt. Ihr Leben ist der Welteroberung gewidmet, sie wissen aber auch, daß es notwendig ist, daß der Krieg
Weitere Kostenlose Bücher