1984
Revolutionen unter dem Banner der Gleichheit gemacht und dann eine neue Tyrannei aufgerichtet, sobald die alte gestürzt war. Die neuen Mittelgruppen proklamierten ihre Tyrannei im voraus. Der Sozialismus, eine Theorie, die anfangs des neunzehnten Jahrhunderts auftauchte und das letzte Glied einer Gedankenkette war, die zu den Sklavenaufständen des Altertums zurückreichte, war noch heftig von dem Utopismus vergangener Zeitalter infiziert. Aber in jeder von 1900 an sich geltend machenden Spielart von Sozialismus wurde das Ziel, Freiheit und Gleichheit einzusetzen, immer unumwundener aufgegeben. Die neuen Bewegungen, die um die Mitte des Jahrhunderts auftauchten, nämlich Engsoz in Ozeanien, Neo-Bolschewismus in Eurasien, Sterbekult, wie er gewöhnlich bezeichnet wird, in Ostasien, setzten es sich bewußt zum Ziel, Un freiheit und Un gleichheit zu einem Dauerzustand zu machen. Diese neuen Bewegungen gingen natürlich aus den alten hervor und neigten dazu, deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien Lippenlob zu zollen. Aber alle zielten darauf ab, dem Fortschritt Einhalt zu gebieten und die Geschichte in einem entsprechenden Augenblick für immer zum Stillstand zu bringen. Das übliche Ausschlagen des Pendels sollte noch einmal vor sich gehen, und dann sollte es stehen bleiben. Wie gewöhnlich sollten die Oberen von den Mittleren verdrängt werden, die damit die Oberen wurden. Aber diesmal würden die Oberen durch eine bewußte Strategie imstande sein, ihre Stellung für immer zu behaupten.
Die neuen Lehren traten teils infolge der Anhäufung historischen Wissens und des zunehmenden Verständnisses für Geschichte, das es vor dem neunzehnten Jahrhundert kaum gegeben hatte, in 91
George Orwell – 1984
Erscheinung. Die zyklische Bewegung der Geschichte war jetzt erkennbar oder schien es wenigstens zu sein.
Und wenn sie erkennbar war, dann konnte man sie auch ändern. Aber der hauptsächliche, tiefere Grund lag darin, daß bereits anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen technisch möglich geworden war. Es war noch immer wahr, daß die Menschen nicht gleich waren in ihren angeborenen Begabungen und daß für die Erfüllung von Ausgaben eine Auswahl getroffen werden mußte, durch die einzelne gegenüber anderen bevorzugt wurden. Aber es bestand keine wirkliche Notwendigkeit mehr für Klassen- oder große Besitzunterschiede. In früheren Zeiten waren Klassenunterschiede nicht nur unvermeidbar, sondern sogar erwünscht gewesen. Ungleichheit war der Preis der Zivilisation. Mit der Weiterentwicklung der maschinellen Produktion änderte sich jedoch die Sachlage. Sogar wenn die Menschen noch die eine oder andere Arbeit selbst verrichten mußten, so brauchten sie doch nicht mehr auf verschiedenen sozialen oder wirtschaftlichen Stufen zu stehen. Deshalb war vom Gesichtspunkt der neuen Gruppen, die im Begriff standen, die Macht zu ergreifen, menschliche Gleichheit kein erstrebenswertes Ideal mehr, sondern vielmehr eine Gefahr, die verhütet werden mußte. In primitiveren Zeitaltern, als eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung tatsächlich nicht möglich war, war es ganz leicht gewesen, daran zu glauben. Die Vorstellung eines irdischen Paradieses, in dem die Menschen ohne Gesetze und ohne harte Arbeit in einem Verbrüderungszustand leben sollten, hatte der menschlichen Phantasie Tausende von Jahren vorgeschwebt. Und diese Vision hatte sogar noch einen gewissen Einfluß auf die Gruppen ausgeübt, die in Wirklichkeit aus jeder geschichtlichen Veränderung Vorteile zogen. Die Erben der französischen, englischen und amerikanischen Revolutionen hatten teilweise an ihre eigenen Phrasen von Menschenrechten, freier Meinungsäußerung, Gleichheit vor dem Gesetz und dergleichen mehr geglaubt und hatten sogar ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen. Aber mit dem vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurden alle Hauptströmungen der politischen Denkweise autoritär. Das irdische Paradies war genau in dem Augenblick in Mißkredit geraten, in dem es sich verwirklichen ließ. Jede neue politische Theorie, wie immer sie sich nannte, führte zu Klassenherrschaft und Reglementierung. Und bei der ungefähr um das Jahr 1930 einsetzenden Vergröberung der moralischen Auffassung wurden Praktiken, die seit langem aufgegeben worden waren, in manchen Fällen seit Hunderten von Jahren – wie Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung, die Verwendung von Kriegsgefangenen als
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