1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Schritte gegangen und hielt auf das Portal zu, da sah er ihn.
Er blieb abrupt stehen, war irritiert, wußte im ersten Augenblick nicht, ob er kehrtmachen oder weitergehen sollte, denn beides hatte seine Tücken. Doch die Entscheidung, was in dieser einen Sekunde zu tun oder zu lassen sei, wurde ihm abgenommen. Hinter ihm fiel ein Schuß, und gleich darauf sah er, wie der Mann, den er im Auge hatte, sich mit beiden Händen an die Brust griff, schwankte, in die Knie ging und dann vollends zu Boden fiel.
Seine Reaktion war die des Laien, des Amateurs, war die eines Menschen, der nicht kalt bleibt, wenn er miterleben muß, wie jemand ums Leben kommt. Er lief auf den Niedergeschossenen zu, hatte schon sieben, acht oder noch mehr Meter zurückgelegt, da kam er zur Besinnung. Er, gerade er, durfte um nichts in der Welt derjenige sein, der sich als erster über das Opfer beugte.
Er drehte sich um, lief davon, hörte die Rufe: »Da!« und »Der Mann da!«, doch zu folgen schien ihm niemand.
Er lief, wußte zeitweilig nicht, wo er war, hatte nur eins im Sinn, sich so weit wie möglich vom Tatort zu entfernen, und das auch so schnell wie möglich. Am Bahnhof Dammtor nahm er die Unterführung, rannte zum Alsterglacis, verringerte dann das Tempo, weil er eine Atempause brauchte. Er kam zur Kennedy-Brücke, überquerte sie. Hin und wieder sah er hinter sich, entdeckte keinen Verfolger. Sein Ziel war der Hauptbahnhof, und so eilte er über den Holzdamm, hatte bald das große Kuppelgebäude vor sich, sah Reisende, Bettler, Huren, Polizisten. Mit gespielter Lässigkeit durchschritt er die Bahnhofshalle, ging hinauf ins Intercity-Restaurant, bestellte sich einen Kaffee. Der kam sofort. Er trank, zündete sich eine Zigarette an. Und wenn mir doch einer gefolgt ist, schoß es ihm durch den Kopf, und er mich unten im Gewühl verloren hat, mich jetzt aber an meinem hellen Anzug wiedererkennt? Er wollte sich schnell die Jacke ausziehen, da fiel ihm ein, daß die Pistole dann zum Vorschein kommen würde. So behielt er die Jacke an, leerte seine Tasse, zahlte und ging.
Auf dem Vorplatz nahm er ein Taxi, sagte: »PLANTEN UN BLOMEN!« Der Fahrer murrte, war verärgert über die kurze Strecke, von der er sagte, die könne man auch zu Fuß bewältigen. Aber der Wagen fuhr, und die Zähluhr lief, und Kämmerer fühlte sich geborgen. Nicht lange. Der Fahrer wurde über Funk von seiner Zentrale angerufen. Ganz deutlich war zu hören:
»An alle Wagen! An alle Wagen! Die Polizei bittet uns, auf folgende Person zu achten, männlich, etwa einsachtzig groß, schlank, kurzes rostbraunes Haar, Brille, vierzig bis fünfzig Jahre alt, bekleidet mit einem hellgrauen Anzug. Sobald einer von euch diesen Mann sichtet, bitte sofort melden!«
Kämmerer rückte ein Stück zur Seite, kroch in sich zusammen, wollte dem Rückspiegel ausweichen, doch da sah er auch schon, daß der Fahrer zum Funkgerät griff. Diesmal reagierte er blitzschnell, riß die Waffe aus dem Gürtel und hielt sie dem Mann an den Hals.
»Kein Wort, oder ich schieße! Sie fahren jetzt ganz normal weiter, aber nicht mehr nach PLANTEN UN BLOMEN! Sie folgen meinen Anweisungen.«
Durch kleine Nebenstraßen dirigierte er ihn zu einem öffentlichen Parkplatz.
»Halt!«
Der Fahrer gehorchte.
»Geben Sie mir das Funkgerät!«
»Die Schnur reicht nicht.«
»Her damit!«
»Das ist dann aber Sachbeschädigung.«
»Soll es ja auch sein. Los!«
Die Hand mit dem Gerät kam bis zur vorderen Rückenlehne. Kämmerer ergriff es, riß die Schnur heraus, steckte es, die Waffe noch immer am Hals des Fahrers, ein und sagte dann:
»Ich steige jetzt aus, werde mich aber noch zehn Minuten in der Nähe aufhalten. Sie bleiben mit Ihrem Wagen hier stehen, rühren sich nicht vom Fleck, und wenn man Sie für eine Taxifahrt haben will, sind Sie besetzt! Bei Zuwiderhandlung haben Sie im selben Moment eine Kugel im Kopf. Ist das klar?«
»Ja.« Es klang sehr kleinlaut.
Er stieg aus, ging ein Stück rückwärts, behielt den Fahrer im Auge. Nach etwa zwanzig Schritten verschwand er hinter der bewachsenen Einzäunung, steckte die Waffe in die Jackentasche. Und dann lief er los, bog mehrmals ab, kam wieder in die Rothenbaumchaussee, überquerte sie, lief bis zum Mittelweg. Erst jetzt warf er das Funkgerät in einen Müllcontainer. Er zog im Laufen die Jacke aus, legte sie sich über den Arm, das weinrote Seidenfutter nach außen. Zwar war da noch immer die hellgraue Hose, aber er hoffte, das dunkelblaue Oberhemd würde
Weitere Kostenlose Bücher