1Q84: Buch 3
Wochentag war es ungewöhnlich, dass um diese Zeit stadteinwärts ein solches Verkehrsaufkommen herrschte. Vielleicht hatte es weiter vorn einen Unfall gegeben. Der Verkehr auf der gegenüberliegenden Spur floss zügig dahin, aber stadteinwärts war es katastrophal.
Tengo war gleich hinter ihr über das Gitter gestiegen. Für ihn war es leicht, er brauchte nur einen großen Schritt zu machen. Jetzt stand er neben Aomame. Die beiden bestaunten stumm die sich Stoßstange an Stoßstange drängenden Autos – wie Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer sehen und sprachlos und wie gebannt auf die sich in endloser Folge brechenden Wellen starren.
Die Leute in ihren Wagen starrten ebenso gebannt zurück. Sie schienen verunsichert, konnten sich zu keiner Haltung entschließen. Statt Neugier spiegelte sich eher Skepsis in ihren Blicken. Was hatte dieses junge Paar vor? Die beiden waren plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht und standen nun auf dem Pannenstreifen herum. Die Frau trug ein enges Kostüm und einen leichten Frühjahrsmantel, aber keine Schuhe. Der Mann war groß und hatte eine abgewetzte Lederjacke an. Beide trugen ihre Umhängetaschen schräg über der Schulter. Hatten sie eine Panne oder einen Unfall gehabt? Aber es war kein Wagen zu sehen, der in Frage kam. Und sie sahen auch nicht aus, als brauchten sie Hilfe.
Endlich gewann Aomame die Fassung zurück, nahm ihre Schuhe aus der Tasche und schlüpfte hinein. Sie zog den Saum ihres Rockes zurecht, hängte sich die Tasche wieder um und band den Mantel zu. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, kämmte sich mit den Fingern die Haare, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das tränenverschmierte Gesicht ab. Dann rückte sie wieder an Tengo heran.
Genau wie damals, im Dezember vor zwanzig Jahren in dem leeren Klassenzimmer, standen sie schweigend nebeneinander und hielten sich an den Händen. Sie beide waren die einzigen Menschen auf der Welt. Sie blickten auf den zähen Strom der Autos vor ihnen, sahen aber in Wirklichkeit nichts. Was sie sahen oder hörten, spielte für die beiden keine Rolle. Die Szenerie, die Geräusche und die Gerüche hatten für sie jede Bedeutung verloren.
»Ob wir es geschafft haben? Sind wir in der anderen Welt?«, fragte Tengo endlich.
»Wahrscheinlich«, sagte Aomame.
»Wir sollten uns davon überzeugen.«
Es gab nur einen Weg, um sicherzugehen. Sie brauchten nicht auszusprechen, welchen. Still hob Aomame das Gesicht und blickte zum Himmel. Tengo tat das Gleiche. Beide hielten Ausschau nach dem Mond. Er musste sich ungefähr über der Esso-Tafel befinden. Aber sie sahen ihn nicht. Anscheinend war er gerade hinter den Wolken verborgen, die der Wind langsam vor sich her nach Süden trieb. Sie warteten. Kein Grund zur Eile, sie hatten alle Zeit der Welt. Sie hatten Zeit, die verlorene Zeit zurückzugewinnen. Zeit, zusammen zu sein. Der Tiger hielt den Tankschlauch in einer Hand, lächelte wissend und musterte das sich an den Händen haltende Paar von der Seite.
Plötzlich fiel Aomame etwas auf. Etwas war anders als vorher, aber sie wusste nicht, was. Sie kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Und dann traf es sie wie ein Blitz. Der Tiger auf dem Plakat wandte ihnen sein linkes Profil zu. Aber früher hatte der Tiger der Welt doch die rechte Seite zugewandt! Der Tiger hatte sich gedreht. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Ihr Herz hämmerte. Sie hatte das Gefühl, dass sich in ihrem Körper etwas verkehrt hatte und in die Gegenrichtung strömte. Aber konnte sie wirklich sicher sein? Funktionierte ihr Gedächtnis so präzise? So sehr traute sie ihm dann doch nicht. Es war nur so ein Gefühl . Vielleicht spielte ihr Gedächtnis ihr einen Streich.
Aomame behielt ihre Zweifel für sich. Einen Moment lang schloss sie die Augen und regulierte ihre Atmung. Ihr Herzschlag normalisierte sich, und sie wartete darauf, dass die Wolken vorüberzogen.
Die Leute beobachteten die beiden durch die Scheiben ihrer Autos. Was gab es dort oben zu sehen? Weshalb hielten sie sich so fest an den Händen? Einige reckten die Hälse, um in die gleiche Richtung zu schauen, doch alles, was sie sahen, waren die weißen Wolken und die Werbetafel von Esso. Pack den Tiger in den Tank. Den Vorüberfahrenden seine linke Seite zugewandt, forderte der Tiger sie freundlich dazu auf, noch mehr Geld für Benzin auszugeben. Triumphierend schwenkte er dabei seinen orange-schwarz gestreiften Schwanz.
Endlich brach
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