Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
die Wolkendecke auf, und der Mond kam zum Vorschein.
    Es war nur einer. Der gute, alte goldene Mond. Der Mond, der schweigend über den Wiesen aus Stielblütengras stand, dessen weiße Scheibe sich in den Seen spiegelte und dessen Licht still auf die Dächer schlafender Häuser fiel. Der Mond, der nimmermüde die Flut an den Strand zog, sacht auf dem Fell der Tiere schimmerte und die nächtlichen Reisenden mit seinem schützenden Schein umfing. Der Mond, der mitunter als scharfe Sichel die Haut der Seele ritzte oder als Neumond der Erde lautlos seine dunklen Tropfen der Einsamkeit einflößte. Ebendieser Mond stand direkt über der Esso-Tafel. Ohne eine Spur von dem asymmetrischen, kleinen grünen Mond. Allein und nichts und niemandem verpflichtet stand er am Himmel. Die beiden mussten einander nicht bestätigen, dass sie das Gleiche sahen. Wortlos drückte Aomame Tengos große Hand. Das Gefühl, der Strom ihres Blutes habe sich umgekehrt, war verschwunden.
    Wir sind wieder im Jahr 1984, sagte Aomame zu sich selbst. Das ist nicht mehr 1Q84. Sondern unsere alte Welt.
    Aber war es wirklich so? War es so einfach, wieder in ihre alte Welt zurückzukehren? Hatte der Leader vor seinem Tod nicht behauptet, der Durchgang zur alten Welt existiere nicht mehr?
    Oder sind wir jetzt womöglich ganz woanders gelandet?, dachte Aomame. Vielleicht nur von einer anderen Welt in die nächste übergewechselt? In eine Welt, in der der Tiger dem Betrachter die linke statt die rechte Seite zuwendet? Und in der uns neue Rätsel und neue Gesetze erwarten?
    Möglich wäre es, dachte sie. Ausschließen kann man es zumindest im Moment nicht. Aber eins kann ich mit Sicherheit sagen: Es ist nicht die Welt mit den zwei Monden. Und ich halte Tengos Hand. Wir waren an einem gefährlichen Ort, an dem die Vernunft keine Macht hatte. Nach schweren Prüfungen haben wir uns gefunden und sind entkommen. Was haben wir noch zu fürchten? Es ist ganz gleich, wo wir sind. Kommen neue Prüfungen auf uns zu, werden wir sie wieder bestehen. Das ist alles. Wenigstens sind wir nicht mehr allein.
    Um glauben zu können, was sie glauben musste, entspannte sie sich und lehnte sich an Tengos breite Brust. Sie legte ihr Ohr darauf und lauschte seinem Herzschlag. Und schmiegte sich in seine Arme. Wie eine Erbse in ihre Schote.
    »Wohin gehen wir jetzt?«, fragte Tengo sie, nachdem einige Zeit verstrichen war.
    Sie konnten nicht ewig dort stehenbleiben. Das war klar. Aber die Stadtautobahn hatte keinen Gehweg. Die Ausfahrt Ikejiri war verhältnismäßig nah, aber selbst bei einem Stau wie diesem war es zu gefährlich, sich als Fußgänger zwischen den Wagen hindurchzubewegen. Und die Wahrscheinlichkeit, hier jemanden zu finden, der zwei Anhalter mitnahm, die munter ihre Daumen heraushielten, war ziemlich gering. Sie hätten natürlich von einer Notrufsäule aus die Straßenverkehrswacht anrufen und um Hilfe bitten können, aber dann hätten sie mit einem überzeugenden Grund dafür aufwarten müssen, dass sie hier gestrandet waren. Auch wenn sie es schafften, unbeschadet zur Ausfahrt Ikejiri zu gelangen, würden die Beamten im Gebührenhäuschen sie vermutlich anhalten. Über die Treppe wieder hinunterzusteigen stand natürlich außer Frage.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Aomame.
    Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie jetzt tun, wohin sie sich wenden sollten. Mit dem Aufstieg war Aomames Rolle beendet. Er hatte sie ihre gesamte Energie gekostet. Sie hatte ihren Kraftstoff bis zum letzten Tropfen verbraucht. Alles Weitere konnte sie nur einer anderen Macht überlassen.
     
    Unser Vater im Himmel, Dein Name werde geheiligt. Dein Königreich komme. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben. Sei mit uns durch Deinen Segen, sei um uns auf unseren Wegen. Amen.
     
    Das Gebet kam ihr ganz natürlich über die Lippen. Fast wie ein bedingter Reflex. Sie brauchte dafür nicht eine Sekunde lang nachzudenken. Die einzelnen Worte hatten keinerlei Bedeutung. Sie waren nicht mehr als eine Formel, ein Klang, eine Aneinanderreihung leerer Zeichen. Aber während sie das Gebet mechanisch herunterleierte, kam etwas Geheimnisvolles über sie, vielleicht konnte man es sogar ein Gefühl von Frömmigkeit nennen. Tief in ihrem Inneren rührte etwas sanft an ihr Herz. Wie froh bin ich, dachte sie, dass mir bei allem, was geschehen ist, kein Leid widerfahren ist. Wie froh, dass ich als ich selbst hier sein kann – auch wenn ich nicht genau weiß, was hier

Weitere Kostenlose Bücher