20.000 Meilen unter den Meeren
Minuten löste er sich aus der Erhebung, drehte sich uns zu und sagte mit einer Handbewegung: »Wenn Sie jetzt kommen wollen, meine Herren …«
Der Boden bestand aus rötlichem Tuff; Schlacken und Lavarinnen verrieten den vulkanischen Ursprung. An manchen Stellen zeugten schwache Schwefeldünste noch von der fortwirkenden unterirdischen Tätigkeit. Die Vegetation spärlich: einige Flechten, einige Diatomeen, einiger Seetang. Am Ufer Mollusken hingesät, Muscheln aller Art, Korallen auch, Seesterne. Die Luft war mit Vögeln aller Gattungen erfüllt, Pinguine watschelten, Strandläufer liefen, Albatrosse und Sturmvögel flogen. Die Atmosphäre war von nebligem Dunst durchdrungen, der jede Beobachtung der Sonne unmöglich machte.
Ohne Stundenwinkelmessung konnten wir aber nicht feststellen, ob wir wirklich am Pol waren. Nemo stand unbeweglich an einen Felsen gelehnt und wartete auf die Sonne. Es stimmte ihn missmutig, dass er ihr nicht befehlen konnte. Gegen Mittag setzte Schneegestöber ein, wir fuhren zur Nautilus zurück.
»Auf morgen!«, sagte Nemo grimmig, bevor er in seiner Kabine verschwand.
Am Morgen des 20. hatte zwar der Schneefall aufgehört, aber das Thermometer zeigte jetzt –2°. Der Nebel befand sich in steigender Bewegung. Wir konnten darauf hoffen, heute zu messen. Gegen elf Uhr ließ Nemo wieder das Boot ablegen, wir brachten die Instrumente an Land und bauten sie auf, diesmal allerdings 10 sm weiter südlich als am Tag zuvor. Geduldig warteten wir die Stunde bis zum Mittag, aber die Sonne zeigte sich wieder nicht.
Das war allerdings ärgerlich. Am 21. März hatten wir das Äquinoktium und dann würde die Sonne sechs Monate lang aus unserem Gesichtskreis verschwinden.
»Morgen oder nie«, sagte ich zum Kapitän.
»Genau«, antwortete er. »Und morgen sogar besonders leicht. Denn wenn morgen um zwölf Uhr die Sonne vom nördlichen Horizont genau in zwei Hälften geteilt wird, befinde ich mich am Südpol. Ich brauche also nur meine Uhr zur Messung.«
»Aber das Ergebnis ist nicht exakt, da das Äquinoktium nicht unbedingt auf zwölf Uhr mittags fällt.«
»Allerdings. Aber die Abweichung beträgt kaum 100 m und diese Exaktheit genügt. Auf morgen!«
Ich fand noch ein Pinguinei im Wert von mindestens 1000 Franc an dieser Küste, steckte es vorsichtig ein und nahm es mit an Bord.
Am anderen Morgen, dem 21. März, stieg ich bereits um fünf Uhr zur Plattform hoch und fand dort den Kapitän.
»Es klart auf. Nach dem Frühstück gehen wir an Land und suchen uns eine gute Stelle für die Beobachtung aus.«
Ich war einverstanden und ging Ned Land wecken, um ihn zu bewegen wenigstens heute mitzukommen, um den großen Augenblick nicht zu versäumen. Aber er blieb starrköpfig, wurde nur wütender, wenn ich in ihn drang.
Um neun Uhr landeten wir an der Küste und der Kapitän erklärte, dass er seine Beobachtungsstation mit Fernglas, Uhr und Barometer auf der Spitze eines kleinen, allerdings schroffen Berges aufschlagen wollte. Der Aufstieg über die schwefeldünstende Erde war nicht einfach und kostete uns zwei Stunden. Von der Spitze aus überblickten wir ein weites Meer, das vom Horizont begrenzt wurde, und zu unseren Füßen ein unermessliches Land voll blendender Schneefelder. Fern im Wasser lag die Nautilus wie ein schlafender Wal.
11.45 brach die Sonne durch, als Nemo gerade mit dem Barometer seine Höhe aufgenommen hatte. Die goldene Scheibe, die ihre letzten Strahlen über den verlassenen Kontinent warf, war nur durch die Brechung der Lichtstrahlen sichtbar. Nemo beobachtete sie mit einem Fernglas, das mit einem Spiegel die Brechung korrigierte, und er folgte ihrer sehr langen Diagonale, die sie unter den Horizont führte. Ich hielt mit zitternden Händen die Uhr. Wenn die Hälfte der Scheibe Schlag zwölf Uhr verschwunden war, so standen wir am Pol!
»Zwölf Uhr!«, rief ich.
»Der Südpol«, sagte Kapitän Nemo gelassen und ließ mich durchs Glas sehen: Es zeigte, wie das Tagesgestirn vom Horizont in zwei Teile geschnitten wurde. Von unten zogen langsam Schatten zur Spitze des Berges hinauf, wo wir standen. Nemo trat zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sprach : »Monsieur, 1600 erreichte der Holländer Gherritz, durch Stürme verschlagen, den 64. Breitengrad und entdeckte die Südshetlandinseln. Am 17. Januar 1773 kam der berühmte Cook unter 38° östl. Länge bis 67° 30’ an den Pol heran und am 30. Januar 1774 bis auf 71° 15’, und zwar unter 109° westl. Länge.
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