2001 Himmelsfeuer
Verhalten der Schamanen des Clans war geheimnisvoll und unergründlich, und es galt bereits als tabu, auch nur Betrachtungen darüber anzustellen oder gar darüber zu sprechen, besaßen doch allein die Schamanen die Macht, sich zwischen der realen und der übernatürlichen Welt zu bewegen. Immer vor Beginn der Ernte, noch ehe die erste Familie ihre erste Unterkunft errichtete, wurden die Gotthütten der Schamanen gebaut. Alle packten mit an, selbst Kinder und Alte, schnitten die besten Äste und Zweige, opferten die besten Häute und Kienspäne, damit die Gotthütte die Götter willkommen heißen konnte und durch Vermittlung der Schamanen die Ernte und das Volk gesegnet wurden. Schon weil man in einer Welt lebte, die unsicher war und gelegentlich mit bösen Überraschungen aufwartete, war es unerlässlich, dass die Schamanen, noch ehe der erste Zapfen vom ersten Baum geholt wurde, sich in die Gotthütten begaben und in Trance versetzten, um in diesem Zustand mit den übernatürlichen Mächten zu kommunizieren und Anweisungen und Prophezeiungen zu erhalten und manchmal neue Gesetze.
Deshalb fürchtete sich Marimi auf einmal vor dieser Nacht der Festlichkeiten. Opaka besaß die Macht der Götter, und aus ihrem Blick, dessen war Marimi sich sicher, sprach Feindseligkeit. Warum? Marimi hatte keine Ahnung, wodurch sie sich den Zorn der Alten zugezogen haben konnte. Hätte ein anderes Stammesmitglied Anlass zu Groll gegeben, wäre Marimi zur Schamanin gegangen und hätte sie angefleht, den Schutz der Götter vor dieser Person zu erbitten. Aber diesmal war es die Schamanin selbst, die Marimi mit einem bösen Blick bedachte!
Sie schreckte zusammen, als ihr unvermittelt Tika einfiel.
Tika war die älteste Tochter der Schwester ihrer Mutter gewesen und von klein auf Marimi schwesterlich verbunden. Gemeinsam hatten sie die geheiligten Riten der Geschlechtsreife abgelegt, und als Marimi und Tika sowie zwölf weitere Mädchen den Initiationswettlauf bestritten hatten und Marimi gewann, das heißt, vor allen anderen die Hütte der Schamanin erreichte, hatte Tika ihr als Einzige Beifall gespendet. Tika war es auch, die während der letztjährigen Ernte heimliche Botschaften zwischen Marimi und dem jungen Jäger hin- und hergebracht hatte, denn es war ihnen untersagt, miteinander zu sprechen, solange die Eheverhandlungen im Gange waren. Und es war Tika, die Marimi und ihrem Ehemann zur Hochzeit einen so ausnehmend kunstvoll verzierten Korb geschenkt hatte, dass der gesamte Clan bewundernd darüber sprach.
Und dann kam Unglück über Tika. Sie hatte sich in einen jungen Mann verliebt, den Opaka für die Enkelin ihrer Schwester bestimmt hatte. Jedem anderen hätte Tika beiliegen können, so Marimis Vermutung, ohne verstoßen zu werden. Aber als man diese beiden in der Grashütte eines Onkels überraschte, berieten sich die Medizinmänner und -frauen, rauchten ihre Pfeifen der Weisheit und bestimmten, dass das Mädchen zu verstoßen sei, der Junge dagegen nicht, weil ihrer Meinung nach das Mädchen ihn angestiftet hatte, ein Stammesgesetz zu brechen. Da der Stamm aus Angst vor der Vergeltung der Götter keines ihrer Mitglieder tötete, nicht einmal dann, wenn sie sich des schlimmsten Verbrechens schuldig gemacht hatten, wurden die Übeltäter lebendig zum Tode verurteilt. Ihr Name, ihre Habe und ihre Vorräte wurden ihnen abgesprochen, sie selbst aus dem schützenden Kreis verbannt, in den sie niemals zurückkehren konnten. Keiner durfte mit ihnen sprechen oder sie ansehen, ihnen auch nichts zu essen anbieten oder Wasser oder Unterkunft. Die Angehörigen schnitten sich die Haare ab und trauerten, als ob der Verstoßene wirklich gestorben wäre. Als Tika zu einer der Namenlosen wurde, hatte Marimis Herz um sie geweint. Jetzt dachte sie daran zurück, wie sie die Freundin am Rande des Pinienwaldes hatte stehen sehen, schwankend wie eine verlorene Seele. Am liebsten wäre sie zu ihr gegangen, hätte den schützenden Kreis verlassen, Tika Nahrung und warme Decken gebracht. Aber das hätte auch Marimi zu einer Verstoßenen gemacht.
Weil sie bereits »tot« waren, lebten Verstoßene nicht lange. Nicht nur, weil sich die Nahrungsbeschaffung als schwierig erwies und weil man den Elementen ausgesetzt war, sondern weil auch der Geist in ihnen erstarb. Wenn der Lebenswille erlosch, ließ der Tod nicht lange auf sich warten. Nach wenigen Tagen war Tika nicht mehr am Rande des Lagers gesichtet worden.
»Mutter«, wandte sich Marimi an die
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