2001 Himmelsfeuer
aufzuwachsen, war Opaka von der alten Frau in Mysterien und Geheimnisse eingeweiht, in Medizinen und Heillehre unterwiesen worden und wie man zu den Göttern sprach. Das war der Beginn von Entsagung und Heimsuchung gewesen, von unerträglichen Monaten der Einsamkeit und Entbehrung, in denen ihr mit Nachdruck und ohne Liebe eingeprägt wurde, nicht an sich zu denken, sondern ausschließlich an den Stamm, dass sie ein Leben ohne Mann an ihrer Seite zu führen hätte, kinderlos, jungfräulich bis ins hohe Alter. Neidgefühle waren Opaka unbekannt. Sie war dazu erzogen worden, das wohlhabendste und mächtigste Mitglied des Clans zu werden – worauf also sollte sie neidisch sein? Auch Eifersucht war ihr fremd; wenn sie sie spürte, vermochte sie sie nicht zu deuten. Und dass sie vor einem einfachen Mädchen Angst haben könnte, hätte sich Opaka niemals eingestanden. Wer auf direktem Weg zu den Göttern sprach, litt nicht unter unbedeutenden menschlichen Schwächen. Blind für ihren eigenen Groll, für ihre Verbitterung und ihre tief wurzelnde Panik, Marimi könnte ihr eines Tages ihre gottähnliche Macht streitig machen, redete sich Opaka deshalb ein, dass das, was sie mit dem Mädchen im Sinn hatte, zum Besten des Stammes geschah.
Mehrere junge Mädchen, Marimis unverheiratete Freundinnen, kamen vorbei, meinten scherzend, dass sie ja wohl nicht Gefahr liefe, sich heute Nacht zu verkühlen, wenn die grimmige Winterluft in die Unterkünfte drang.
Sie
dagegen hätten nur ihre Felle und Häute, die sie warm hielten, während die glückliche Marimi zusätzlich die Hitze eines Mannes verspüren könne. »Wenn wir dich schreien hören«, sagte die, die demnächst mit einem Jäger aus dem Falken-Clan verheiratet werden sollte, »sollen wir dann kommen und deinem Mann Beine machen?«
Marimi errötete und schalt die Freundinnen lachend einfältige Jungfrauen, wenngleich ihr die Aufmerksamkeit, die man ihr zollte, schmeichelte. Außerdem freute sie sich tatsächlich auf die lustvolle Umarmung ihres Mannes heute Nacht.
Sie wollte den Freundinnen gerade ein Körbchen Beeren anbieten, die sie am Nachmittag gesammelt hatte, als mit einem Mal eine Frau mit einem Kind auf dem Arm schreiend in den Kreis stürzte, die Tänzer beiseite drängte und vor Opaka niederfiel, flehentlich darum bittend, die Medizinfrau möge ihren Sohn retten.
Stille breitete sich aus, nur noch das Knistern der Lagerfeuer war zu hören und, etwas weiter entfernt, das Wimmern von Babys.
Marimi kannte den Jungen. Er hieß Payat und gehörte dem Berglöwen-Clan an, seine zweite Familie war das Volk aus dem Roten Canyon, seine erste Familie die, die an der Salzebene lebt. Mit atemlosen Schweigen verfolgten die Umstehenden, wie Opaka sich jetzt mühsam erhob, sich über den vor Schmerzen laut stöhnenden Jungen beugte und verschiedene Stellen seines Körpers berührte, ihm die Hand auf die Stirn legte, dann die Augen schloss und die Hände mit den Handflächen nach unten über die sich windende Gestalt breitete. Dazu stimmte sie einen mystischen Singsang an, den keiner verstand.
Endlich öffnete sie wieder die Augen, richtete sich, so gut sie konnte, auf und erklärte, der Junge habe ein Tabu gebrochen und werde jetzt von einem bösen Geist bewohnt.
Die Menge rang nach Luft, scharrte nervös, einige verzogen sich sogar. Menstruierende Frauen oder solche, die stillten, eilten in ihre schützenden Unterkünfte, während Männer zögernd nach ihren Speeren griffen. Wenn jemand von einem bösen Geist besessen war, drohte Unheil, konnte doch der Geist jeden Augenblick von dem Besessenen auf jeden anderen überwechseln.
Opaka erklärte den Jungen zum Unberührbaren, dass er so gut wie tot sei und die Götter ihm nicht helfen könnten. Daraufhin beriet sie mit dem Häuptling und den Unterhäuptlingen über sein weiteres Schicksal. Es war ausgeschlossen, dass man ihm gestatten würde, beim Volk zu verweilen. Marimi trat näher an das Geschehen heran.
Payats Mutter beugte sich schluchzend über den Sohn, beschwor den bösen Geist, aus dem Körper auszufahren. Zwei Jägern wurde bedeutet, sie von dem Knaben wegzureißen, denn Opaka zufolge war es tabu, ihn zu berühren. Während aller Augen auf die verzweifelte Frau gerichtet waren, drängelte sich Marimi, neugierig geworden, noch näher. Sie wusste, dass sie eigentlich Abstand halten sollte, denn als Schwangere hatte sie in der Nähe eines Unberührbaren nichts zu suchen. Aber sie hatte noch nie einen Menschen
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