2001 Himmelsfeuer
Für so hohes Fieber schlug er unnatürlich langsam. Mit Schrecken erinnerte sie sich an ein Fieber, das vor zehn Jahren Mexico City heimgesucht hatte. Die hohe Temperatur und der langsame Puls hatten bei den Ärzten höchsten Alarm ausgelöst, denn sie signalisierten nur eins:
febre tifoidea
– Typhus!
In jähem Entsetzen schloss sie die Augen. Sie hatte Recht gehabt mit dem Pfirsichhändler. Er war das, was die
doctores
in Mexiko einen Überträger nannten. Er hatte die Krankheit nach Devil’s Bar gebracht. Angelique stand vor Angst und Hilflosigkeit wie gelähmt da. Menschen starben an Typhus, selbst gesunde junge Männer.
Während sie verzweifelt überlegte, was sie tun, wen sie um Hilfe bitten sollte, erwachte Seth und starrte sie aus fiebrig glänzenden Augen an. »Sie sind noch da«, flüsterte er. »Könnte ich bitte etwas Wasser haben?« Plötzlich beugte er sich über den Bettrand und erbrach sich. »O Gott, wie Leid mir das tut«, stöhnte er und sank wieder in die Kissen. Zu Angeliques Entsetzen hatte er sich auch noch beschmutzt.
Da brach alles, was in den vergangenen Wochen geschehen war – die Überfahrt auf der
Betsy Lain,
die Versteigerung, Devil’s Bar –, wie eine schwarze Sturzflut über ihr zusammen. Sie konnte nicht mehr! Weinend stürzte sie aus der Hütte, rief nach ihrem Vater, verwünschte diesen Ort, hasste Seth Hopkins.
Tränenblind floh sie aus dem Lager, platschte durch den Fluss und erklomm die Anhöhe mit ihren trostlosen Baumstümpfen.
Oben angelangt, lief sie in den Wald, wo sie sich zu Boden warf und hemmungslos weinte. Sie ließ ihrem Gefühl der Einsamkeit, der Hilflosigkeit und ihrem Heimweh einfach freien Lauf. Da durchzuckte ein jäher, scharfer Schmerz ihren Kopf, und sie hatte ihre Medizin nicht zur Hand. Sie musste den Anfall über sich ergehen lassen, diese abscheuliche Fallsucht, die sie von ihrer Großmutter Angela geerbt hatte.
Während sie von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt wurde, stiegen Bilder in ihr auf, Visionen. Keine Halluzinationen oder Ahnungen, sondern Erinnerungen an längst vergangene Tage, als sie sechs Jahre alt war: diese merkwürdige Zeit auf Rancho Paloma, als es doch eine Hochzeit geben sollte, dann aber etwas passierte und sie alle überstürzt abreisten. Angelique wusste nicht warum, aber auf einmal kamen ihr die hysterischen Anfälle ihrer Mutter von damals wieder in den Sinn. Carlotta, die Angelique nur als starke, tüchtige Frau in Erinnerung hatte, bloß noch ein Nervenbündel! Es hatte irgendetwas mit Tante Marinas rätselhaftem Verschwinden und mit Großvater Navarro zu tun. Aber was jetzt aus Angeliques bruchstückhaften Erinnerungen herausragte, scharf und deutlich wie die Bergspitzen um sie herum, waren Großmutter Angelas Gesicht – blass und wunderschön – und ihre Stimme, so klar wie der Vogelruf in den Wäldern hier, als sie sagte: »Ich habe getan, was getan werden musste. Ihr könnt sagen, dass es falsch war, und vielleicht war es auch falsch, aber es musste getan werden.« Und dann war Carlotta in Panik ausgebrochen: »Sie werden dich mitnehmen, Mutter! Sie werden dich hängen! Du musst fliehen. Du musst dich verstecken!« Und Großmutter, so gefasst und so stark: »Ich werde weder fliehen noch mich verstecken. Ich werde alles ertragen, was Gott mir auferlegt. Navarro-Frauen kennen keine Furcht.«
D’Arcy hatte seine Frau und Tochter am folgenden Tag fortgebracht, und Angeliques Erinnerungen an das Geschehen waren mit der Zeit verblasst. Nur jetzt, im schmerzhaften Griff dieser heftigen Kopfschmerzen, fragte sie sich, was in jener schicksalhaften Nacht geschehen war und warum ihre Mutter gefürchtet hatte, dass man Großmutter Angela ins Gefängnis sperren und hängen würde. Wohin war Tante Marina verschwunden, und hatte man sie je wiedergesehen?
Wer ist in jener Nacht mit donnernden Pferdehufen davongeritten
?
Allmählich löste sich der Bann. Die Kopfschmerzen verebbten, die Stimmen und Visionen verschwanden wie Träume bei Morgenlicht. Als Angelique die Augen aufschlug, schien sie den Wald um sich herum zum ersten Mal richtig zu sehen, zu hören und zu riechen. Welche Erhabenheit! Welche Schönheit! Sie holte tief Luft, und es war, als atmete sie neue Kraft. Atmete die Seele der Wälder.
Navarro-Frauen kennen keine Furcht.
Angelique schaute sich in dem waldigen Paradies um, in dem sie sich auf einmal befand. Durch die hohen Baumstämme blickte sie auf das heimelige Goldgräbercamp, das sie kurz zuvor
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