2001 Himmelsfeuer
von Charlie Bigelow, dem Swenson-Baby und Eliza Gibbons’ zwei Zimmermädchen. Dann merkte sie, dass sie nicht von Geistern, sondern von ihren eigenen Erinnerungen heimgesucht wurde – Erinnerungen, die sie so lange unterdrückt, Dinge, die ihre Mutter ihr über ihre Familie in Kalifornien erzählt hatte. Zum Beispiel, wie Angelique sich aus abgöttischer Liebe zu ihrem Vater von den Navarros abwandte, weil sie ihn so schmählich behandelt hatten. Aber jetzt fiel ihr wieder ein, dass Großmutter Angela Jacques D’Arcy wie einen Sohn aufgenommen hatte. Sie erinnerte sich, wie ein Kavallerist zur Hacienda geritten kam, um sie vom Tod ihres Mannes bei der Schlacht von Chepultepec zu informieren, und sie sich noch nie so verlassen wie damals gefühlt hatte. Ihr Vater war bereits fortgegangen, und ihre Mutter war tot. Sie hatte niemanden mehr. Nun fielen ihr alle ihre Cousins wieder ein. Da war etwas mit einem Bären, der in einen Korral gebracht wurde, und Angelique stand inmitten einer Schar von Kindern, die alle mit ihr verwandt waren. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, aber sie gehörte tatsächlich zu einer großen Familie. Was für ein Trost musste eine Familie in Zeiten wie diesen sein!
Und jetzt waren sie tatsächlich alle da, in ihrer Erinnerung, und sie spendeten ihr Trost. Aber noch mehr: Sie leisteten ihr Beistand in höchster Not.
Großmutter Angela am Küchentisch, an den die sechsjährige Angelique gerade heranreichte. Sie bereitete etwas in einer Tasse zu, erklärte dem Kind, wie die Zauberkraft der Rinde das Fieber senkte.
Ohne nachzudenken rannte Angelique aus der Hütte, stolperte zum Fluss und folgte im Mondlicht seinen Windungen, bis sie an einen Weidenbaum kam. Sie stürzte sich auf die Rinde, riss an ihr mit den Fingern, bis sie sich abschälte. Dann hastete sie in die Hütte zurück, legte die Rinde in kochendes Wasser, ließ den Sud abkühlen und versuchte, Seth etwas davon einzuflößen. Er hustete und spie um sich. Sie setzte ihm den Becher erneut an die Lippen. Er konnte nicht trinken. Also tunkte sie ein Taschentuch in den Tee und drückte es zwischen Seths Lippen aus. Stunde um Stunde saß sie so da und flößte Seth das Gebräu ein.
Schließlich nahm sie ihren Rosenkranz zur Hand, kniete sich vor das Bett, bettete ihren Kopf an Seths Brust und begann inbrünstig zu beten. Sie schlief in dieser Haltung ein und wurde erst wach, als sie seine Hand auf ihrem Haar spürte.
Das Fieber war gesunken, die Krise überstanden.
Obwohl Seth immer noch krank und sehr geschwächt war, konnte Angelique ihn zwischendurch allein lassen, um den anderen im Camp zu helfen. Sie kümmerte sich um die Kranken, kochte riesige Mengen Bohnen für die Gesunden, half bei den Bestattungen, beim Verbrennen von Kleidern und Bettwäsche und teilte das Geheimnis ihres Zaubertees. Abends saß sie an Seths Bett und las ihm aus
Viehzucht
vor. Zunächst entlockten ihm ihre Leseproben nur ein schwaches Lächeln, wenn sie zum Beispiel vortrug: »›Zum Eierlegen ist die Weiße Leghorn-Henne am besten geeignet.‹« Später dann, als es ihm schon besser ging, lachte er laut, wenn sie in ernstem Ton vorlas: »›Die Holsteiner Kuh produziert viermal mehr Milch als die herkömmliche Milchkuh …‹«
Schließlich, nach Wochen, hatte sich der Typhus aus Devil’s Bar zurückgezogen. Die letzte Bestattung lag schon ein paar Tage zurück, die Menschen nahmen ihr Tagewerk wieder auf, inspizierten ihre Claims und ließen den Schrecken hinter sich. Seth, der nunmehr bereits auf einem Stuhl sitzen konnte, schaute Angelique mit klaren Augen, die nicht mehr von Krankheit umschattet waren, an und erklärte: »Ich habe einen Bärenhunger.«
Sie machte ihm etwas Handfestes zu essen, und er staunte über ihre perfekten Kartoffelpuffer: weich in der Mitte, knusprig an den Rändern und genau richtig gewürzt. Während er kaute, erkundigte er sich nach dem Befinden der anderen. »Ingvar Swenson hat seine Frau und das Baby verloren. Mrs. Ostler ist tot.« Angelique hatte Mühe weiterzusprechen. Auf der Anhöhe lagen zweiunddreißig frische Gräber.
»Und Eliza?«, wollte er wissen.
»Miss Gibbons ist immer noch sehr krank.«
»Ich werde ihr einen Besuch abstatten, sobald ich wieder auf den Beinen bin. Habe ich im Delirium geredet?«
Angelique lächelte.
»Muss ich mich entschuldigen?«
»Sie sind einmal aufgewacht und haben gemeint, Sie hätten nicht gewusst, dass es Engel in der Hölle gibt. Sie haben auch von Ihrer
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