2008 - komplett
zurückzuholen. Es war ihr Schwur, der das von ihnen verlangte.
„Lady Joan.“ Seine unvermittelte Anrede ließ sie zusammenfahren, und sie sah in sein Gesicht, das nichts von dem verriet, was in ihm vorging. „Sagt Eurem Onkel, Ihr habt mir geholfen zu verhindern, dass seine Männer mich töten. Ihr wusstet, er würde das nicht wollen, außerdem kann er Blutvergießen zur Weihnachtszeit nicht gutheißen.“
Sie überlegte kurz, dann räumte sie ein: „Das ist schlau.“
„So bin ich eben manchmal.“ Seine Augen verrieten dabei mehr, als über seine Lippen kam.
Seine Mutter unterbrach die stumme Verbindung zwischen ihnen, indem sie sich vorbeugte und das Wort erhob. „Ich bin Euch zutiefst dankbar, Lady Joan, dass Ihr meinem Sohn beigestanden habt.“ Ihren Augen, die unter schweren Lidern hervorschauten, entging nichts, und ihr Lächeln hatte nichts Warmherziges an sich.
„Ich würde nicht wollen, dass irgendjemand wegen eines Stücks Stoff sterben muss.“
Verächtlich sah Edmunds Mutter sie an. „Das ist nicht bloß ein Stück Stoff, Mädchen.“
„Nein, das ist es nicht“, stimmte Joan ihr zu und hielt ihrem Blick stand. „Für die Männer zweier Familien ist es zu einer Fessel geschmiedet worden. Früher oder später wird auch Lord Edmund von seinem Sohn den Schwur hören, dass er in dieser Sache niemals einlenken und niemals verhandeln wird.“
Edmunds rechter Arm war dick verbunden, und dennoch gelang es ihm, ihr Handgelenk zu fassen. „Ruhig, Joan.“
Sie sah, wie seine Mutter das Gesicht verzog, doch das hing nicht mit dem zusammen, was Joan gesagt hatte. Vielmehr lag es daran, dass Edmund sie mit ihrem Vornamen angesprochen hatte, und an seinem Tonfall. Seine Worte waren eine entschiedene Warnung gewesen, aber im Tonfall schwang etwas Intimes mit.
Dann bemerkte sie, wie ihm selbst bewusst wurde, was er da soeben gesagt hatte.
Er nahm seine Hand fort und deutete mit seiner Linken auf die rechte Seite des Tisches, wo auf einem großen, kunstvoll verzierten und vergoldeten Ständer ein Stück Stoff hing – verblasste Rot- und Brauntöne, dazu irgendeine Stickerei. „Dort ist es.“
Das Bethlehem-Banner. Es hing da wie ein leidender Jesus an einem goldenen Kreuz.
Kriegsbanner sahen nach einer Schlacht selten noch ruhmreich aus, doch dies war ein besonders stark verschossenes und zerfetztes Exemplar, was ihm aber zusätzliche Macht verlieh. Joan konnte sich bei seinem Anblick lebhaft vorstellen, wie man es vor Generationen nach Jerusalem gebracht hatte, wo es mit Blut befleckt wurde, und wie man es anschließend dort auf die Erde legte, wo Jesus zur Welt gekommen war.
Vielleicht waren es aber auch das Leiden und das Blut der folgenden Jahre, die ihm diese besondere Macht verliehen.
Auf einmal bemerkte sie, wie sich alle Diener verbeugten, wenn sie an dem Banner vorbeigingen.
Sie wandte sich zu Edmund um. „Hängt es immer dort?“
Ihr Tonfall brachte ihn dazu, die Stirn zu runzeln. Vielleicht taten das auch alle anderen im Saal, aber sie war allein auf ihn konzentriert. „Natürlich nicht. In der Feste gibt es eine besonders gesicherte Kapelle, in der es aufbewahrt wird. Nur an Weihnachten wird es präsentiert.“
„Es wird weggeschlossen?“
„Sechs Mönche leben ganz in der Nähe, um Tag und Nacht davor zu beten, Lady Joan.“
Beten sie um Vergebung? Oder beten sie für noch größeren Ruhm für die de Graves?, wollte sie ihn fragen. In Anbetracht des Wohlstands, in dem er lebte, und der Ehrfurcht, mit der die anderen ihm begegneten, wurde ihr klar, warum die de Montelans glaubten, das Banner besitze mystische Macht. Und darum wollten sie das Banner für sich haben.
Aber das alles war verkehrt. Ihr kam es vor, als sei das Banner an jenem Kreuz gefangen, so wie sie selbst morgen eine Gefangene kaltherziger Menschen sein würde.
Wieder berührte er sie sanft mit seiner rechten Hand. „Was ist denn, Joan? Ihr wisst, Ihr müsst Eure Zunge nicht im Zaum halten.“
Der Anflug eines Lächelns in seinen Augen erinnerte sie an einen anderen Ort und eine andere Zeit, doch das lag in der Vergangenheit und war abgeschlossen. Der wachsame Blick seiner Mutter war dafür Bestätigung genug. Dennoch schuldete sie ihm eine gewisse Ehrlichkeit. „Wenn wir uns unterhalten können, bevor ich abreise, Mylord – unter vier Augen –, dann werde ich Euch sagen, wie ich darüber denke.“
Nach kurzem Nachdenken nickte er. „So soll es sein. Für den Augenblick hingegen würde ich mich
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