2009 - komplett
jemanden, den sie lieben konnte und der sich um sie kümmerte. Ian wünschte nur, er könnte dieser Mensch sein, aber das sollte nicht sein. Er konnte nur hoffen, dass sie bei den Nonnen fand, was sie suchte.
Als sie mit dem Festessen begannen, versorgte er sie pflichtbewusst mit Speisen von ihrem gemeinsamen Essbrett und kommentierte angemessen ihre Ausrufe darüber, wie gut das Essen sei. In Wahrheit hätten die wenigen Bissen, die er zu sich nahm, ebenso gut trockener Hafer sein können.
Er kämpfte gegen die Leere in seiner Brust an, den Schmerz in seinem Kopf und die Unruhe, die sie jedes Mal, wenn sie lächelte oder seine Hand berührte, in seinen Lenden hervorrief. Der Verlust von Dunniegray war nichts verglichen mit dem Verlust von Juliana.
Vielleicht würde er weniger leiden, wenn er sich schnell verabschiedete. Wenn er ihr einfach nur das Säckchen mit den Goldstücken gab, ihr alles Glück wünschte und Byelough sofort verließ. Das Wetter und die Dunkelheit der Nacht machten eine Reise zu diesem Zeitpunkt jedoch unmöglich. Morgen würde er ihr das Geschenk geben und gehen.
Nachdem die Diener die Reste der Weihnachtsbäckerei von den Tischen geräumt hatten, begannen die Belustigungen. Melior, dieses Jahr der Lord of Misrule, gab eine gute Probe seiner Kunst ab. Der dürre Strolch verlangte einen Tanz mit Honoria und dann mit Juliana, wirbelte sie nacheinander herum, bis sie kicherten und umhertaumelten, weil ihnen schwindlig war.
Offensichtlich voll des guten Bieres machte der Bursche es sich zu Füßen von Kits spindeldürrer Kinderfrau Mistress Nan bequem. Das obszöne Liebeslied, das er für sie trillerte, ließ die alte Jungfer mit dem verkniffenen Gesicht erröten wie eine frischgebackene Braut.
Eifersucht durchfuhr Ian wie ein Pfeil. Hätte er doch nur das Recht, Juliana so zu umwerben und ihr sein Herz zu Füßen zu legen! Und sie würde seine Zuneigung erwidern. Aber sie waren keine Diener, die sich an ihren wohlwollenden Herrn wenden konnten, der für ihren Unterhalt sorgte, wenn sie heirateten. Ian war ein Ritter und Juliana die Tochter eines Ritters. Sie mussten sehen, wie sie sich in der Welt durchschlugen.
Wie schwer es ihm fiel, sich zum Lachen und Applaudieren zu zwingen, wenn Juliana ihre Freude über die Possen der Zecher zeigte. Doch er gab sich alle Mühe, denn er wollte nicht, dass sie seine trübe Stimmung widerspiegelte. Für die kommenden Jahre wollte er sie so fröhlich in Erinnerung behalten.
„Jetzt rühr dich doch, Gray! Oder hast du zwei linke Füße?“, neckte Alan den Freund, während er die lachende Juliana um das Podest führte. „Kümmere dich um meine Dame, während ich mit meiner Cousine tanze.“
Er vergisst keinen Augenblick seine Manieren, dachte Ian und stand auf, um Alans Aufforderung nachzukommen. Die Strodes waren jetzt die einzige Familie, die es für ihn gab. Ganz gleich, was in den nächsten paar Jahren auch geschah, sie würden ihn hier immer willkommen heißen, das wusste er.
Eines Tages würde er zurückkommen, wenn Juliana im Kloster war. Wie sollte er sonst erfahren, wie es ihr ging?
„Bei allen Heiligen, was machst du für ein langes Gesicht?“, bemerkte Honoria, als sie den weiten Tanzkreis durchquerten. „Stimmt etwas nicht, mein Freund?“
Ian schenkte ihr ein gequältes Lächeln. „Alles stimmt nicht, fürchte ich. Aber mach dir keine Sorgen, Honoria. Ich werde alles in Ordnung bringen ... bald.“
Sie drückte seine Hand und lachte leise. „Du bist derjenige, der Sorgen hat. Und ich kann den Grund erraten.“ Sie warf einen Blick auf Juliana und ihren Gatten. Mit dem Ausdruck einer lang verheirateten Frau, die glaubt, alles zu wissen, riet ihm Honoria:
„Liebe ist nichts, wovor man sich fürchten muss, Ian.“
„Fürchten?“, fragte er und verzog die Lippen. „Nun, Mylady, ich sehne mich nach nichts mehr.“
„Ja dann!“, rief sie aus und warf den Kopf zurück, während er sie langsam unter ihren miteinander verschränkten Händen hindurchführte. „Dann musst du dein Schicksal umarmen, mein Freund. Es gibt’s nichts mehr, was dich hindern kann, nicht wahr?“
Es gibt nichts mehr, in der Tat , dachte Ian ärgerlich. Es ging nur noch darum, sein selbstsüchtiges Verlangen und seine Enttäuschung zu zügeln und Juliana zu zeigen, dass ihre zukünftige Zufriedenheit ihm mehr am Herzen lag als seine eigene. Das war eine große Leistung für einen Mann, der selten einen Gedanken an die Wünsche anderer verschwendet
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