2009 - komplett
nicht. Ihre Haare waren ganz mit einem zerschlissenen schwarzen Tuch bedeckt, das ihr zusammengebunden als ein dickes Bündel auf den Rücken fiel.
„He, Frau“, rief Will.
Wie erstarrt blieb sie einen Augenblick lang stehen. „Ja, Mylord?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
„Ich habe keinen Appetit auf Rebhuhn. Nimm es wieder mit.“
Das Mädchen drehte sich um und nahm mit gesenktem Kopf das Essen fort.
Eingehend betrachtete Will ihre Hände.
Er lächelte. „Danke“, sagte er, als sie den gebratenen Vogel entfernt hatte.
„Aye, Mylord“, murmelte sie und ging rasch fort.
Er begegnete Agravars fragendem Blick. „Ein Rätsel als Weihnachtsgeschenk, Agravar.“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Hast du ihre Hände bemerkt?“
Der Wikinger runzelte nur die Stirn und sah der Magd nach, die mit anmutigen Schritten hinausging. Auch Will sah ihr nach und bemerkte sehr wohl den aufreizenden Schwung ihrer Hüften. „Hast du jemals bei einer Dienerin so etwas gesehen, frage ich dich – solch eine edle Haltung?“
„Was meinst du, wer sie ist?“, fragte Agravar.
„Mein lieber Freund, genau das will ich herausfinden.“
Olivia de Hycliff unterdrückte den Wunsch zu rennen. Gemessenen Schrittes trug sie ihr Tablett in die unteren Gewölbe, wo sich die Küche befand, und stellte sie auf einen der langen Arbeitstische.
„Wie es scheint, ist mein Herr nicht hungrig“, sagte sie zu Bethelda.
Die dicke Frau zog die Stirn kraus. „Nach einem Tag wie diesem weigert mein Herr sich zu essen? Aber die Winterluft macht den Männern doch Appetit ... Kind, warum zitterst du denn?“
Olivia versteckte ihre Hände, um das verräterische Zittern zu verbergen. Oben in der Halle hatte sie tatsächlich Angst bekommen. Wieso hatte Lord Will sie aufgefordert, sein Essen wieder fortzunehmen? Warum hatte er sie so genau betrachtet? Gerade so, als ob er um die tödlichen Geheimnisse ahnte, die sie in ihrem Herzen verbarg.
Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich im Stillen. Vielleicht verabscheute der Mann einfach nur Rebhühner. Immerhin hatte sie ihm eines auf sein Brett gelegt, bevor er ihr geantwortet hatte, denn sie hatte es sehr eilig gehabt, seiner möglichen Aufmerksamkeit zu entfliehen. Stattdessen hatte sie erst recht sein Misstrauen auf sich gezogen. Der Teufel sollte das launische Schicksal holen!
Bethelda betrachtete sie nachdenklich. „Hast du heute schon etwas gegessen?“
„Ja, heute Morgen“, log Olivia.
Fodor, einer der Köche, ging in diesem Augenblick an ihnen vorbei. „Mach dir mal keine Sorgen um die Kleine da. Ich sage dir, die kann essen.“ Er schenkte Olivia einen zärtlichen Blick. „Wirklich, sie liebt meine Pasteten.“
„Nun, dann solltest du mehr davon essen“, meinte Bethelda verstimmt. „Schau dich doch mal an, du bist ja kaum zu sehen. Nur ein Hauch von einem Dingelchen!“
Ein komisch verschmitztes Grinsen erschien auf Fodors rundem Gesicht. „Die Männer mögen etwas zum Anfassen, Mädchen!“ Und Bethelda kreischte auf, als er ihr mit der Hand auf den üppigen Hintern schlug.
Olivia mühte sich ein Lachen ab. Es klang gestelzt, aber sie wusste, dass sie sich nicht schockiert zeigen durfte, wenn sie die Dienerin spielte.
Jetzt zog der Page, ein fünfzehnjähriger Junge mit Namen Elbert, ihre Aufmerksamkeit auf sich, als er eintrat. „Olivia, hier bist du! Lord Will wünscht dich zu sehen. Er hat mir aufgetragen, dich zum Söller zu bringen.“
Zuerst war Olivia wie betäubt. Dann überfiel sie eine heiße Welle der Angst. „Er ...
wie bitte?“
„Sofort, sagte er. Beeil dich.“
Olivia sah zu Bethelda, die ihr tröstend den Arm um die Schulter legte. „Warum so ängstlich? Ach, Liebes, glaubst du etwa ...? Lord Will ist keiner von dieser Sorte ...
Nun, bleib ganz ruhig, Kind. Geh und schau nach, was dein Herr von dir will.“
Olivia verstand, was Bethelda meinte, aber die Angst vor den unzüchtigen Absichten eines skrupellosen Lords war ihre kleinste Sorge.
Zitternd holte sie tief Luft und sagte zu Elbert: „Ich war noch nie im Söller des Herrn.
Geh du voraus, ich werde dir folgen.“
2. KAPITEL
Elbert verschwand schließlich wieder und ließ Olivia im Söller allein auf ihren Herrn warten. Der Söller besaß an drei Seiten mehrere Fenster, damit während des Tages so viel Sonnenlicht wie möglich eindringen konnte, und war so großzügig ausgestattet wie alles auf Thalsbury. Tapisserien hingen an den Wänden, und das Gemach war mit
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