2009 - komplett
Olivia. „Sein Name ist Stephen.“
„Er ist Euer Sohn?“
Sie schluckte schwer, und Will wappnete sich. „Das Kind ist nicht mein Sohn, aber er ... gehört ... mir. Er ist mein Neffe, der Sohn meiner Schwester.“
Der Druck auf seiner Brust ließ zwar ein wenig nach, aber er war ganz und gar nicht beschwichtigt. „Dann erzählt mir, Lady Olivia, wieso Ihr ihn hier in dieser Hütte versteckt haltet.“ Sein Zorn schürte die Gefühle, die in ihm gärten, und seine Stimme wurde laut. „Wieso habt Ihr Euch geweigert, mir zu erzählen, dass er Euer Mündel ist? Wieso zum Teufel ...“, er donnerte das Wort heraus, „versteckt Ihr Euch, gebt vor, eine Bedienstete zu sein und schleicht durch die Nacht wie eine Verbrecherin ?“
Olivia öffnete den Mund, wurde aber von einem Schrei unterbrochen, der aus der Wiege kam. Stephen war wach geworden. Olivia machte einen Schritt auf die Wiege zu, aber Will stellte sich ihr in den Weg. „Nein, Mylady, ich will es jetzt wissen.“
„Bitte, Mylord, erlaubt mir, zu ihm zu gehen.“
„Gleich. Euch bekommt man nämlich nur schwer zu fassen.“
Das Geschrei des Babys wurde lauter, doch keiner wagte sich zu regen. Atemlos stieß Olivia hervor: „Ich habe ihn geraubt. Als meine Schwester und ihr Gatte starben, ging die Vormundschaft auf den Onkel meines Schwagers über, einen Mann, den beide, Clare wie auch Kenneth, verabscheuten.“ Mit hoher Stimme flehte sie Will um Verständnis an. „Sie wären entsetzt gewesen, hätten sie gewusst, dass ihr Sohn sich in den Händen dieses Mannes befindet. Er ist ... abscheulich. Also nahm ich das Kind und lief fort.“
„Wieso hierher?“, fragte er, während das Baby jetzt ernsthaft anfing zu schreien.
Mit bittend erhobenen Händen erklärte Olivia: „Es war der erste Ort, an dem der Wollhändler anhielt. Er nahm uns in seinem Karren aus unserem Dorf mit und brachte uns nach Thalsbury. Ich weiß noch nicht einmal, wie weit wir gekommen sind.“
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht rührte ihn und weckte all seine Beschützerinstinkte.
Es beunruhigte ihn auch, dass das Baby jetzt aus vollem Hals schrie. Konnte er Olivia glauben? Konnte er bei so vielen Lügen überhaupt noch irgendetwas glauben? Oh Gott, das Brüllen des kleinen Burschen konnte einem auf die Nerven gehen. Er drehte sich um, hob ihn aus der Wiege und bettete das Kind an seine Brust. Als der kleine Stephen die nötige Aufmerksamkeit erhielt, hörte er sofort auf zu schreien und schniefte in die weiche Wolle von Wills Tunika.
Nachdem das Kind friedlich an seiner Brust ruhte, wandte Will sich wieder zu Olivia um und setzte seine Befragung fort. „Stimmt es, dass Ihr aus Hycliff seid? Das dürfte ungefähr siebzig Meilen im Süden liegen. Ihr seid von so weit her gekommen?“
Stumm stand sie da, den Blick auf das Kind gerichtet. Sie schien wie zu Eis erstarrt, und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Langsam verlor Will die Geduld. „Sagt es mir, verdammt noch mal! Das Spiel ist vorbei, Olivia, oder ist es so selbstverständlich für Euch geworden zu betrügen, dass Ihr Euch nicht an die Ehrlichkeit gewöhnen könnt?“
„Nein! Nein, ich werde Euch alles erzählen, Mylord, bitte!“ Ihr Entsetzen verblüffte ihn. Er verstand sie nicht, bis sie die Arme ausstreckte und flehte: „Nur, bitte, tut ihm nicht weh!“
Sie glaubte tatsächlich, er wolle dem Baby wehtun!
In Wahrheit hatte er sich nichts dabei gedacht, als er das Kind hochnahm. Stephen hatte geschrien, und Will war ihm am nächsten gewesen, das war alles.
Er besaß keine Scheu vor Kindern wie die meisten Krieger. Seine einfache Herkunft hatte ihm viel Erfahrung mit Babys eingebracht. Meistens empfand er sie als eine erfreuliche Abwechslung. Oft sah man ihn in seiner eigenen Burg aus Spaß einen Knirps auf die Schulter heben. Oder er ließ bei einem Ritt auf seinem Hengst ein Kind vor sich im Sattel sitzen.
Doch all das konnte Olivia nicht wissen.
Sie glaubte, er wolle dem Kind etwas antun. Bei Gott, wie konnte sie so etwas von ihm denken?
Will sah auf Stephen hinunter, der jetzt eingeschlafen war. Im Schlaf sah sein engelhaftes Gesicht weich und süß aus.
„Er ist ein schönes Kind“, sagte Will zu Olivia, ehe er ihr Stephen übergab.
Kaum hatte sie das Baby auf dem Arm, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie musste erkannt haben, was sie getan hatte. Ihr Gesicht, das sie zu einer so schlechten Lügnerin machte – denn jeder Gedanke, jedes Gefühl spiegelte sich in ihren Zügen wider
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