2009 - komplett
Nagel auf den Kopf getroffen. Ihr Benehmen war schändlich gewesen. Und er hatte wirklich etwas Besseres verdient.
Zugegeben, das war die letzte einer ganzen Reihe von Niederlagen. Sie hatte so viele Kämpfe gekämpft, viel zu viele. Sie war des immerwährenden Kämpfens müde.
Monate zuvor war ihr Leben schon zu einer einzigen Katastrophe geworden.
Angefangen hatte es mit dem schrecklichen Verlust von Clare und Kenneth. Dann war ihr Antrag auf die Vormundschaft von Stephen abgelehnt worden. Sie hatte Clement herausgefordert, von dem sie wusste, dass er ein brutaler Mann war, der sich nur aus Eigennutz für das Kind interessierte. Mehr noch, sie hatte begonnen, sich um Stephens Sicherheit zu sorgen. Doch König Richard war mit dem Mann auf einem Kreuzzug gewesen, und sein Justitiar, der in Richards Abwesenheit regierte, zeigte sich Clements Argumenten wohlwollend geneigt.
Ihr war keine andere Wahl geblieben, als das Kind zu nehmen und mit ihm zu flüchten. Sie war eine Verbrecherin. Für das, was sie getan hatte, würde sie hängen, wenn man sie einfing.
Wenn man sie einfing.
Ihre trüben Gedanken waren keine gute Gesellschaft. Die Furcht überwältigte sie, Rastlosigkeit ließ sie nicht zur Ruhe kommen und machte sie unsicher. Sie hatte Angst – vor so vielen Dingen. Sie wollte sich für immer verkriechen. Sie wollte kämpfen. Sie wollte ...
Sie wollte Will. So vieles hatte sie bei ihm wiedergutzumachen. Vielleicht verstand er sie, wenn er erkannte, wie groß ihre Verzweiflung in den letzten Monaten gewesen war. Erst kürzlich hatte er ihr das versprochen. Verstehen und Verzeihen hatte er ihr zugesichert. Sollte sie es wagen, sein Versprechen einzufordern?
In ihr loderte eine Sehnsucht, die nur ihm galt. Und sie sehnte sich danach, diese Bürde an einen anderen weiterzugeben, sie zu teilen. Zu lange war sie allein gewesen.
Am späten Nachmittag endlich brachte sie den Mut auf, ihn zu sehen. Sie sandte ihm eine Nachricht mit der Bitte um eine private Audienz. Man sagte ihr, er würde sie im Söller treffen.
Als sie den komfortablen Raum betrat, machte Will einen eisigen Eindruck auf sie.
Mit verschränkten Armen stand er zu seiner vollen Höhe aufgerichtet vor ihr und kam ihr riesig vor. Vielleicht nahm sie ihn aber auch nur so wahr. Er nickte kaum, als sie von der Tür her auf ihn zuging.
Ihre Schritte auf dem nackten Stein klangen wie das Wispern von Sand. Sie blieb vor ihm stehen und merkte, dass die wohl einstudierten Worte aus ihrem Kopf verschwunden waren.
Will wartete stumm, ohne sich zu rühren.
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. In der leeren Stille klang ihre Stimme dünn.
„Ich bin gekommen, um ... um Eure Verzeihung zu erbitten, Mylord. Ich ... ich habe Euch schweres Unrecht angetan. Ihr hattet recht, was mich betrifft, und auch recht in so manch anderer Hinsicht.“
In der Hoffnung auf ein Zeichen, auf irgendeinen Hinweis darauf, dass ihre Worte gehört worden waren, hielt Olivia inne. Nichts geschah.
Sie fuhr fort. „Ich bitte Euch nur, bei alldem die furchtbaren Entscheidungen zu berücksichtigen, zu denen ich gezwungen war. Die vergangenen Monate waren ...“
Sie stockte, denn mit einem Mal wurde ihr die Kehle eng. Trotzdem versuchte sie weiterzusprechen. „Damals raffte das Fieber meine Schwester und ihren Gatten hinweg. Der kleine Stephen lag noch in den Windeln ...“
Zu ihrem Entsetzen begann sie zu weinen und war schockiert über ihren ungebührlichen Gefühlsausbruch. Das Schlimmste aber war, dass sie nicht aufhören konnte zu schluchzen. Verzweifelt vergrub sie das Gesicht in den Händen und wünschte sich nur noch, im Boden zu versinken.
„Nicht doch.“ Es war nur ein leises Flüstern. Dann eine Berührung. Zart strichen seine Finger ihr übers Haar. „Keine Tränen, Liebste. Das ist jetzt vorbei.“
Er zog sie an sich, wie man ein Kind in die Arme nimmt. Sie konnte seine Worte nicht verstehen, denn seine Warmherzigkeit ließ sie nur noch lauter schluchzen. Aber sie drangen in sie ein und fanden den Weg zu ihrem Herzen. Während er sie in seinen Armen barg, als könnte er sie vor all dem Schlechten im Leben schützen, weinte sie sich ihren Kummer von der Seele.
Es fühlte sich wundervoll an, so, als wäre sie zu Hause. Als wäre sie genau da, wo sie hingehörte.
Sie liebte ihn.
Erstaunt über diese neue Erkenntnis hob sie das Gesicht und sah ihn verwundert an.
Lächelnd nahm er ihr Gesicht in beide Hände und wischte ihr mit den Daumen die Tränen fort.
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