2011 - komplett
die sich entschlossen hatte, noch weitere frische Kerzen am Baum anzubringen.
„Lass das bloß nicht Tante Eloise oder Onkel Abner hören.“ Sie reichte ihm einige Wachskerzen. „Für sie ist der Weihnachtsbaum genauso englisch wie die Königin.“
„Du weißt aber sicher, dass auch die Königin einige deutsche Vorfahren hat“, sagte er in der Hoffnung, ihr ein Lachen zu entlocken. Es gelang ihm auch, und gemeinsam arbeiteten sie eine Weile daran, den Baum mit frischen Kerzen zu schmücken. Rafe stellte die Leiter hin und hielt sie fest, während Claire hinaufkletterte, um die Spitze des Baums zu erreichen.
Die Wangen vor Anstrengung gerötet, sah sie zu Rafe hinunter und lächelte. Wie hätte ich sie gestern Abend nicht für einen Engel halten sollen, dachte er verzaubert.
Sie war die Anmut in Person und weckte in ihm den Wunsch, sie zu berühren. Ihm wurde plötzlich ganz heiß, und überhaupt musste er einen Moment völlig die Kontrolle über seine Handlungen verloren haben, denn nur das könnte erklären, warum er am Fuß der Leiter stehen blieb und Claire keinen Platz machte, als sie wieder herunterkletterte.
Er stand so dicht an der Leiter, dass Claire sich fragend zu ihm umblickte. Aber er rührte sich nicht. Er konnte einfach nicht. Wenn sie sich neben ihn stellte, würden sie sich berühren müssen.
„Cousin Ralph ...“
„Es wird ‚Rafe‘ ausgesprochen. Nur die Mayhews nennen mich Ralph.“
„Rafe.“ Ihre Stimme klang leicht atemlos. „Das passt zu dir.“
Und damit stieg sie endgültig von der Leiter. Rafe hielt den Atem an und genoss das Gefühl ihrer weichen Rundungen an seiner Brust und den berauschenden Duft ihres Haars.
Er war sicher, in ihren schönen Augen die gleiche Leidenschaft zu sehen, die auch er empfand. Heftige Sehnsucht erfasste ihn, sie in seine Arme zu schließen. Doch er gab sich damit zufrieden, die Hände an ihr Gesicht zu legen und die Lippen auf ihren Mund zu drücken.
Das schrille Läuten der Hausglocke und gleich darauf Schritte auf dem Marmor in der Eingangshalle zerstörten den Zauber des Augenblicks.
Laute Stimmen drangen zu ihnen durch, und Claire – das Gesicht hochrot – beeilte sich nachzusehen, was geschehen war. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe aus dem nicht weit entfernten Ort kam polternd in die Halle gestürzt und rief: „Fröhliche Weihnachten! Wir haben eine Geschichte für euch!“
Eine Handvoll rotgesichtiger Dorfbewohner in selbst genähten Kostümen stellte sich vor den Rest der Gruppe und verbeugte sich, wenn auch eher schwankend, gewiss aufgrund des traditionellen Weihnachtsmummenschanzes, den sie am heutigen Tag bereits zum Besten gegeben hatten, und der dankbaren Zuwendung – zweifellos alkoholischer Natur –, die sie von ihrem jeweiligen Publikum erhalten hatten. Mit übertriebener Höflichkeit erbaten sie die Erlaubnis der Dame des Hauses, ihnen etwas vorspielen zu dürfen.
„Sehr gern, gute Leute“, rief Tante Hortense vom Treppenabsatz herunter. „Und wenn eure Geschichte glaubhaft klingt, werdet ihr eine schöne Belohnung erhalten.“
Familie und Bedienstete stellten sich auf die Stufen der Treppe oder im Kreis um die Schauspieler herum und warteten gespannt auf die Geschichte von Flautus und Mephistopheles. Einer der Kostümierten begann von einem armen, unglücklichen Burschen zu erzählen – in seiner Version hieß er Flautus –, der von Geldsorgen geplagt wurde und leider auch unglücklich verliebt war. Der verzweifelte Mann schwor sich, er würde seine Seele an den Teufel verkaufen, wenn er so nur sein Schicksal verbessern könnte. Und Mephistopheles, gespielt von einem grauhaarigen alten Mann, nahm ihn beim Wort.
Eine Weile genoss Flautus sein neues Glück in vollen Zügen, sorglos und ohne daran zu denken, dass die Stunde näher rückte, in der er seinen Teil des Paktes würde einhalten müssen. Er ehelichte in rascher Abfolge einige unglückselige junge Frauen, erwarb sich auf verruchte Art ein enormes Vermögen und verbrachte seine Tage damit, sein Geld zu zählen und die Menschen um sich zu vergraulen. Als eines Tages der Teufel erschien und Flautus’ Seele verlangte, wollte niemand ihm helfen.
Wohl um der Weihnachtszeit ihren Tribut zu leisten, trat dann jedoch ein junges Mädchen hervor – gespielt von einem lebhaften Jungen mit piepsiger Stimme – und flehte den Teufel an, Mr Flautus zu schonen, denn, so behauptete sie, er habe ihr einmal eine harte Brotrinde geschenkt. Danach zählte sie den
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