077 - Die Gruft der bleichenden Schädel
Stuart
Hamshere war 26 Jahre alt. Zu jung, um zu sterben, aber darauf nahm sein Mörder
keine Rücksicht. Er lauerte seinem Opfer vor Jonnys Nachtbar auf. Es war der 5.
Mai, 23.56 Uhr. Als Stuart Hamshere die Bar verließ, ahnte er nicht, daß er den
6. Mai nicht mehr erleben würde. Er trat auf die menschenleere Straße. Die
Nacht war kühl, ein feuchter Wind wehte von der Themse her. Fröstelnd schlug
Stuart Hamshere den Kragen hoch, griff in die linke Brusttasche und zog ein
Etui hervor. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und wollte auf
die andere Straßenseite wechseln, wo sein Fahrzeug stand.
Genau in
diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Bar hinter ihm.
»Hallo,
Mister Hamshere«, rief eine Stimme.
Stuart drehte
sich um. Vor ihm stand ein hagerer, blasser Mann. Er hatte die typische
Gesichtsfarbe der Menschen, die kaum an die frische Luft kamen, die sich
entweder den ganzen Tag im geschlossenen Raum aufhielten, oder sich in Bars wie
der von Jonny herumtrieben.
»Ja, bitte«,
fragte Stuart Hamshere erstaunt. Er kannte den Mann nicht.
Der Fremde
trat auf ihn zu. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle«, sagte er. »Mein Name
ist Harold Shorthand. Ich bin Reporter beim Daily Express.«
»Shorthand?«
murmelte Stuart Hamshere. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Kein Wunder«,
der Journalist grinste. »Den Namen eines Starreporters sollte man kennen.
Vielleicht erinnern Sie sich noch genauer an mich, wenn ich Ihnen sage, daß
mein Spitzname Pinky ist.«
»Pinky
Shorthand, natürlich!« rief Stuart Hamshere überrascht. »Sie sind doch der
Bursche, der die Artikelserie
Unheimliche
Kriminalfälle und ungewöhnliche Ereignisse
schreibt. Ich
kenne Ihre Stories. Interessante Dinge, über die Sie schreiben.«
»Interessant
und faszinierend«, bemerkte Pinky Shorthand.
»Sie dürfen
nicht vergessen, daß jeder Artikel der Wahrheit entspricht.«
»Woher kennen
Sie mich und was für einen Grund haben Sie, mich anzusprechen?« fragte Stuart
Hamshere. Er war ein Mensch, der gern sofort zum Wesentlichen kam.
Harald Pinky
Shorthand legte seine Stirn in Falten. »Sie sind der Sohn von Frank Hamshere,
nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann sind
Sie genau der Mann, mit dem ich sprechen will.« Zwischen Stuart Hamsheres Augen
bildete sich eine steile Falte.
»Dann
verstehe ich nur eins nicht. Weshalb sprechen Sie mich hier auf der Straße an?
Sie kommen doch gerade aus der Bar. Ich bin länger als zwei Stunden dort
gewesen.« Der mißtrauische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Das ist
einfach gesagt, Mister Hamshere. Daran ist Jonny, der Barbesitzer schuld. Er
hatte versprochen, mich anzurufen, sobald Sie wieder in der Kneipe sind. Leider
hat er erst zu spät wieder an unsere Abmachung gedacht, und…«
Weiter kam
Pinky Shorthand nicht.
Stuart
Hamshere zuckte zusammen. Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle er
etwas sagen. Doch statt eines Wortes kam nur ein unartikulierter Laut über
seine Lippen, der wie »aaarghhkk« klang. Stuart Hamshere streckte seine Hand
aus, als wolle er auf etwas deuten.
Auf einmal
klappte er wie ein Taschenmesser zusammen. Reglos und in seltsam verkrümmter
Haltung lag er auf dem Rand des Gehweges, den Kopf zur Seite gedreht, die Hand,
welche die noch brennende Zigarette hielt, in die Gosse gestreckt, wo die Glut
zischend in einer schmutzigen Pfütze verlöschte.
Der Reporter
stand drei Sekunden wie zur Salzsäule erstarrt. Dann löste er sich aus dem
Bann.
»Mister
Hamshere? Aber, um Gottes willen! Was ist denn los mit Ihnen?«
Pinky
Shorthand bückte sich und drehte den reglosen Körper auf die Seite. »Mister
Hamshere?« Er schüttelte den Mann, der eben noch mit ihm gesprochen hatte. »Hallo?
Können Sie mich hören?«
Stuart
Hamshere konnte nicht. Er atmete nicht mehr, sein Herz stand still. Der junge
Mann war tot.
●
Pinky Shorthand warf den Kopf in den Nacken
und blickte aus fiebrig glänzenden Augen aufgeregt um sich.
Ein Mord,
schoß es ihm durch den Kopf. Ein mysteriöses und unheimliches Verbrechen.
Stuart
Hamshere war nicht auf natürliche Weise ums Leben gekommen. Dies war der Fluch
der bleichenden Schädel! Frank Hamshere, der Vater des Toten, hatte diesen über
die Familie gebracht.
Der Reporter
ließ seinen Blick die Straße entlanggleiten. Weit und breit kein Mensch. Die
Gegend lag verlassen und dunkel vor ihm. Auch auf dem Parkplatz gegenüber von
Jonnys Nachtbar gab es keine
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