2012 - Folge 10 - Im Bann der Loge
festhalten.« Leise schluchzend fügte sie hinzu: »Und ob er überhaupt noch lebt.«
»Deshalb muss ich endlich Diego de Landas Aufzeichnungen übersetzen. Vielleicht erfahren wir aus ihnen mehr über die Maschine, was uns bei der Suche nach Jandro hilft.«
Ihr Blick verriet Tom, dass sie nicht daran glaubte. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war: er auch nicht.
Aber was blieb ihm anderes übrig?
Also setzte er sich an den Tisch, verfolgte mit einem Ohr die Nachrichten im Radio und widmete sich dem Text auf den Papyri.
So verging Stunde um Stunde. Er lernte Diego de Landas erstaunliche Lebensgeschichte kennen, erfuhr von seinem Aufstieg zum Kaziken – und las von zwei Begriffen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen.
In seiner Aufregung sprang er vom Stuhl auf. Ein ziehender Schmerz in den Schultern zeigte ihm, dass er viel zu lange über die Dokumente gebeugt gesessen hatte.
Vor dem Fenster ging gerade die Sonne auf und Tom fragte sich, wann es wohl aufgehört hatte zu regnen. Er war so in seine Arbeit versunken gewesen, dass ihm das gar nicht aufgefallen war.
»Was ist denn los?«, murmelte Maria Luisa vom Bett her.
Ihm wurde bewusst, dass er die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. Aber es hatte sich gelohnt.
»Diego de Landa benennt zwei Gegenstände, die er in einer Zukunftsvision gesehen hat«, sagte er aufgeregt. »Den Aufzeichnungen zufolge soll es sich um die einzigen Waffen handeln, mit denen man die Maschine zerstören kann!«
Maria Luisa war mit einem Schlag hellwach. Sie schwang sich aus dem Bett und kam zu ihm herüber. »Was sind das für Waffen?«
Tom deutete auf die Textstellen. »De Landa nennt sie den Feuerkranz und die Nadel der Götter! «
Yucatán, 1520
Der volle Mond schien auf die Gruppe von Männern herab und tauchte ihre Gesichter in bleiches Licht.
Diego de Landa ließ den Blick über die Kaziken der anderen Städte gleiten und versuchte, in ihnen zu lesen. Im besten Fall sah er Neugier, doch ihm schlug auch offene Feindseligkeit entgegen.
Er hatte damit gerechnet. Aber immerhin waren sie gekommen. Ein guter Anfang, wie er hoffte.
Natürlich waren nicht alle Kaziken erschienen. Die Tutul Xiu beispielsweise hatten dem Gesandten die rechte Hand abgeschlagen und ihn zurückgeschickt, um Diego de Landa zu zeigen, was sie von seiner Einladung hielten. Doch der weiße Maya-König hatte ohnehin erwartet, dass der Weg steinig werden würde.
Sie standen auf der Plattform der Tempelpyramide, dem Ort, an dem die Kraft des Visionsrings und die Reste von Ts’onots Lomob sich mit dem des neuen Chilam Hunagupach vereint hatten. Zwischen ihnen brannte ein niedriges Feuer und verströmte einen süßlichen, beißenden Geruch.
»Wir haben uns heute hier vor Ix Ch’up, der Göttin des Mondes, versammelt, um mit euch das schreckliche Wissen um die Zukunft der Welt zu teilen.«
Hunagupach trat zum Feuer und warf eine Handvoll gemahlener Kräuter und Samen in die Flammen. Die Orakelpriester der anderen Städte folgten seinem Vorbild, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Sie kannten die entsprechenden Rituale.
Aus einem Korb holte Diego de Landa ein Huhn, das sich nach Kräften, aber vergebens gegen das ihm bevorstehende Schicksal wehrte. Er hielt es über das Feuer.
Der Chilam zog ein Messer hervor und schlug dem Tier mit einer flüssigen Bewegung den Kopf ab. Blut sprudelte aus dem Halsrumpf in die Flammen und auf die versammelten Orakelpriester.
Diego de Landa warf das Huhn zurück in den Korb und streckte die beringte Hand über das Feuer. Hunagupach fasste ihn am Handgelenk, und auch die anderen Chilam griffen nach seinen Fingern oder berührten lediglich die Haut.
Bitte, flehte er die Götter an. Lasst es noch einmal geschehen!
Er schloss die Augen. Konzentrierte sich. Versuchte, die Bilder einer Vision heraufzuzwingen.
Nichts geschah.
Waren es zu viele Chilam? Vermochte er die Eingebung jeweils nur mit einem Menschen zu teilen? War das Lomob der restlichen Orakelpriester nicht stark genug? Hatte er das von Ts’onot aufgebraucht? Wollten die Götter nicht, dass alle Maya vom Ende der Welt erfuhren?
Was auch immer der Grund sein mochte, die Vision blieb aus.
Er fühlte die Hitze des Feuers an seinem Unterarm. Er fühlte die Berührung der anderen Männer. Er fühlte das Gewicht des klobigen Rings.
Ein sanfter Wind kam auf und strich über die Tempelpyramide. Er glitt über Diego de Landas Haar, streichelte sein Gesicht und trug ihn mit sich, als wäre der Kazike
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