2012 - Folge 10 - Im Bann der Loge
nicht mehr als eine Feder des geopferten Huhns.
Er fühlte sich leicht, beinahe gewichtslos. Obwohl er sich der Berührung der Orakelpriester noch immer bewusst war, schwebte er davon. Er verließ Ah Kin Pech, flog durch Raum und Zeit. Die Augen hielt er weiter geschlossen. Und doch sah er!
Schiffe, die ohne Segel durch das Meer pflügten. Kutschen, die ohne Pferde fuhren. Gebäude, höher als die höchste Pyramide. Menschen in fremdartiger Kleidung. Kästen, in denen sich Bilder bewegten und aus denen schrille Töne klangen.
Die ganze Welt versank in Lärm, Eile, Dreck und Gottlosigkeit.
Ist es darum überhaupt schade? Hat diese Welt den Untergang womöglich verdient?
Er schob den Gedanken beiseite. Wer war er, den Willen der Götter zu hinterfragen?
Ein Ächzen ertönte.
Diego de Landa öffnete die Lider – und blickte in schweißüberströmte, schreckensverzerrte Gesichter. Um sie herum existierte nichts mehr. Nur die Orakelpriester, das Feuer zwischen und der Himmel über ihnen.
In diesem Augenblick begriff der Kazike: Die Chilam sahen ! Auch wenn ihn selbst die Vision diesmal nicht heimgesucht hatte, erlebten die anderen doch gerade das Ende der Welt. Sie litten.
Die Erinnerung an Ts’onot flammte in ihm auf. Was, wenn den Orakelpriestern ein ähnliches Schicksal widerfuhr? Was, wenn sie die Schrecken, die sie erlebten, nicht überstanden und an ihnen zugrunde gingen? Was, wenn er, Diego de Landa, sie auf diese Art tötete?
»Der Himmel!«, stöhnte ein Chilam auf. »Was geschieht mit ihm?«
Der Kazike von Ah Kin Pech legte den Kopf in den Nacken und glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Die Sterne verschieben sich!
Wie von Geisterhand, nein: wie von Götter hand bewegt krochen die Lichtpunkte über den schwarzen Samt des Nachthimmels. Der Mond? Wo war der Mond?
Er war erloschen. So, als wolle er die Beobachter nicht blenden und ihnen einen ungehinderten Blick auf die Sternbilder gewähren.
Das ist der Zeitpunkt! Wenn die Sterne so am Himmel stehen, wird die Welt enden!
Diego de Landas Beine zitterten und gaben unter ihm nach. Dann erloschen auch die Sterne.
Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, schob sich die Sonne gerade hinter dem Horizont empor. Das Feuer auf der Tempelpyramide war längst erkaltet.
Der Kazike stemmte sich hoch. Unwillkürlich entfloh ein Stöhnen seinen Lippen.
Nicht nur ihn hatte die Bewusstlosigkeit heimgesucht. Auch die Orakelpriester und sogar die Kaziken der anderen Städte lagen vor dem Blutstein, als erwachten sie gerade aus einem tiefen Schlaf.
Diego de Landa betrachtete den Ring an seinem Finger.
Ausgebrannt! , dachte er. So wie das Feuer. Von nun an kann er vielleicht noch starke Schwingungen auffangen, aber nie wieder wird mit ihm jemand in die Zukunft sehen.
Er wusste nicht, woher diese Gewissheit rührte. Aber er spürte, dass der Gedanke der Wahrheit entsprach.
Seine Erleichterung war groß, als sämtliche Männer auf den Beinen waren. Es hatten also alle überlebt.
»Warum strafen uns die Götter mit solchem Wissen?«, fragte ein Orakelpriester. Von seinem linken Ohr fehlte die Hälfte.
»Es handelt sich um keine Strafe, Echac Tec«, antwortete Hunagupach. »Sondern um einen Aufgabe.«
»Welche Aufgabe soll das sein?«
»Ist das nicht offensichtlich? Die Götter haben uns nicht nur gezeigt, was geschehen wird. Sie ließen uns auch wissen, wann. Aus welchem anderen Grund sollten sie das tun, wenn nicht, um die Menschheit zu warnen?«
»Wie soll das möglich sein?« Echac Tec trat vor und blickte Hunagupach herausfordernd an. »Wir alle haben gesehen, dass der Haab noch viele Zyklen durchlaufen wird. Niemand von uns wird dann noch leben.«
»Du sprichst die Wahrheit«, gestand der Chilam von Ah Kin Pech ein. »Aber sollen wir deshalb den Willen der Götter missachten? Diegodelanda hat eine Möglichkeit gefunden, wie wir unsere Aufgabe erfüllen können. Doch dazu bedarf es der gemeinsamen Anstrengung aller Maya. Wir müssen uns einen. Darum geht hin und berichtet euren Völkern, was ihr gesehen habt. Lasst sie von der Herausforderung wissen, vor die die Götter uns gestellt haben.«
Dann erklärte er ihnen Diego de Landas Plan.
Splitter des Untergangs
Auszug aus einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters:
» Die NASA hat bestätigt, dass sich der Kurs des Kometen ›Christopher-Floyd‹ erneut verändert hat. Die Wahrscheinlichkeit für einen Impakt habe sich dadurch aber nicht erhöht, heißt es. Dennoch ist die Zahl der Selbstmorde in den
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