2012 - Folge 7 - Ein Grab im Dschungel
gebrauchen.
Damals hatte Isleif sich gefragt, was ein Archivar sei. Heute wusste er auch das, nur hatte er immer noch keine Ahnung, was es im Zusammenhang mit den Geschehnissen zu bedeuten hatte. Was in jener Nacht wirklich passiert war, wer und was diese Fremden gewesen waren, all das hatte Isleif nie herausgefunden.
Der im Baum sagte, er werde dem Todgeweihten eine letzte Gnade erweisen. Plötzlich lag in seiner Hand ein klobiges Ding, das Isleif nicht genau erkennen konnte, weil das flirrende Licht ihn blendete. Das Ding spie einen Blitz aus, der in den Sumpf niederfuhr.
Der Fremde zuckte unter dem Treffer so heftig zusammen, dass die kopfgroße Kugel, um die sein Arm lag, zersprang. Ihr Inhalt floss zäh in den Sumpf, die Scherben schmolzen und lösten sich noch in der Luft auf. Das Wesen sank augenblicklich tiefer.
Und über Isleif wurde es schlagartig dunkel. Das Lichtspiel war vorüber, der Fremde im Baum verschwunden.
Ohne recht zu überlegen, was er da tat, sprang Isleif auf und warf sich am Rand des Sumpflochs zu Boden. Die Arme vorgestreckt, versuchte er nach dem versinkenden Geschöpf zu greifen und ihm zu helfen. Dabei geriet er mit dem Gesicht in den Sumpf und schluckte Brackwasser.
Als Isleif den Kopf wieder hob, war der Fremde schon nicht mehr zu sehen. Nur ein paar zerplatzende Luftblasen markierten noch die Stelle, wo er versunken und gestorben war.
Isleif blieb auf den Knien am Rand des Sumpflochs hocken. Er versuchte den modrigen Geschmack des Wassers auszuspucken. Den Blick hielt er auf den Punkt gerichtet, wo gerade eine allerletzte Luftblase auftauchte, sich scheinbar endlos lange hielt und schließlich doch zerplatzte.
Dann lag wieder alles völlig still da, wie vorher.
In diesem Moment fühlte Isleif sich so einsam wie noch nie im Leben. Nicht einmal, als das Meer ihn nach dem Untergang der Ævintyr als einzigen Überlebenden ans Ufer geworfen hatte, war er sich so schrecklich allein vorgekommen wie jetzt.
Allein …
Das Wort schreckte Isleif aus seinen Erinnerungen auf. Er blickte sich im Dunklen um und lauschte. Doch er sah und hörte nichts.
Sie war nicht mehr da.
Und das war nicht gut.
Für die drei Fremden …
Yucatán, Mexiko, Gegenwart
Xavier Sotos Prognose erwies sich als erstaunlich präzise. Zur Mittagszeit des folgenden Tages erreichten sie das Zielgebiet, das er anhand der Karte von Diego de Landa eingegrenzt hatte, und eine Stunde später standen sie am Rand jener Landmarke, die am unverkennbarsten war – ein grob herzförmiger Cenote.
In ganz Yucatán – und weltweit nur dort – gab es laut Xavier über dreitausend dieser trichterförmigen Kalksteinlöcher, die durch Höhleneinstürze entstanden und mit Süßwasser gefüllt waren. Manchmal betrug der Durchmesser nur wenige Meter, in anderen Fällen mehrere hundert. Einige waren nur unscheinbare Teiche, andere – wie dieser hier – wahre Kraterseen, an die sich Grotten anschlossen, teils noch über dem Wasser, teils darunter.
Die meisten Cenotes waren vermutlich mit dem größten Unterwasserhöhlensystem der Erde verbunden, dessen Gesamtlänge auf weit über eintausend Kilometer geschätzt wurde.
»Tauchst du?«, fragte Xavier, den Blick in die Tiefe des vor ihnen liegenden Kraters gerichtet, in dessen raue Kalkwände sich hier und da Sträucher krallten. Die geheimnisvoll dunkelgrüne Wasseroberfläche lag fast fünfzig Meter unter ihnen.
»Früher, ja«, sagte Abby, ebenfalls hinabblickend.
»Wie kann man das Tauchen aufgeben, wenn man ihm erst einmal verfallen ist?«, wunderte sich Xavier.
Abby zuckte mit den Schultern und verzichtete auf eine Antwort. Sie hatte nach Tom keinen Partner mehr gefunden, der ebenfalls Gefallen an diesem faszinierenden Sport hatte. Vielleicht würde sie einmal hierher zurückkehren …
Ach, komm, mach dir doch nichts vor!, unterbrach sie ihren Gedanken in dem Wissen, dass es dazu nicht kommen würde. Sobald sie etwas aufschob, konnte sie es ebenso gut gleich abhaken.
»Die Maya errichteten ihre Siedlungen in der Nähe von Cenotes. Daraus versorgten sie sich mit Frischwasser«, erklärte Xavier weiter. »Die Cenotes spielten aber auch in ihrer Mythologie eine Rolle. Das Wort Cenote kommt von dem Maya-Begriff ts’onot , ›Heilige Quelle‹.«
»Na, das passt ja wie die Faust aufs Auge«, meinte Abby.
Xavier nickte. Er wusste natürlich, dass sie nach dem Grab eines Maya-Kaziken eben dieses Namens suchten.
»Hohe Persönlichkeiten wurden in der Nähe von Cenotes
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