2012 - Folge 8 - Der zeitlose Raum
aber ihre Lippen zitterten dabei und ihr Blick verschwamm für einen Moment. Dann hatte sie die Tränen fortgeblinzelt und Tom den Wagenschlüssel aus der Jackentasche gepflückt. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und drückte sich fest an ihn. »Mach’s gut, alter Junge«, flüsterte sie, so dicht an seinem Ohr, dass ihre Lippen es berührten. Sie spürte, wie ihn ein Schauer durchrieselte.
»Pass gut auf dich auf, mein Mädchen«, flüsterte er zurück. »Und jetzt beeil dich, du hast nicht mehr viel Zeit.«
Eine Minute später, als sie schon fast bei den Megalithen angelangt waren, hörte Tom den Motor des Van aufheulen und wandte sich um. Der schwarze Wagen rumpelte über Bordsteine, Straße und Grün und nahm seinen Platz dort ein, wo sie vorhin noch gestanden hatten.
Im selben Moment erlosch das letzte Glimmen des Temporators. »Runter!«, zischte Tom, und sie gingen hinter einem liegenden Findling in Deckung.
Dann hörte sie den Polizisten rufen: »- Hände, sofort!« Tom sah es nicht, aber er konnte sich bildlich vorstellen, wie der Mann verwundert dastehen und dorthin starren musste, wo »gerade noch« vier Personen gewesen waren und wo jetzt ein großer schwarzer Wagen stand.
Abby ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken. Sie legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und raste los. Tom hörte den Beamten fluchen, der zurück zu seinem Wagen eilte, einstieg und die Tür zuzog. Nur einen Moment später heulte der Motor des Jaguar auf und katapultierte den schaukelnden Wagen mit kreischenden Reifen auf die Straße hinaus.
Die Verfolgungsjagd würde nicht lange dauern – Jaguar gegen Van –, aber sie würde ihren Zweck erfüllen.
So wie Abby ihren Zweck erfüllt hatte.
Es erfüllte Tom mit Wehmut, sie wieder aus seinem Leben verschwinden zu sehen, vielleicht für eine lange Zeit. Aber sie hatte sich entschieden, und er akzeptierte das. Vielleicht würde sie um eine lange gesuchte Antwort reicher nach Hause zurückkehren.
Als beide Wagen in der Nacht verschwunden waren, ging Tom weiter voran, den letzten Hügel hinauf und zu der Stelle, von der aus er vor ein paar Stunden mit Alejandro den geheimnisvollen Raum betreten hatte. Er konnte nur hoffen, dass seine Theorie sich bewahrheitete – dass jeder, der mit dem Träger des Armreifs Körperkontakt hatte, den Übergang auch mitmachte. Andernfalls hatten sie ein Problem.
Jandro trat vor die Lücke zwischen den Megalithen, einen Arm angewinkelt, als schaute er auf die Uhr, in der anderen Hand immer noch den vermaledeiten Koffer. Das Ding war sperrig und schwer und würde sie nur behindern.
»Hier kannst du den Koffer doch stehen lassen«, versuchte es Tom noch einmal, erntete aber nur ein: »Bin noch nicht fertig.«
»Aber …«
Maria Luisa versetzte Tom einen leichten Knuff und schüttelte den Kopf. Nun lass ihn doch , hieß das, und Tom nickte ergeben.
Alejandro machte es dramatisch. Er streckte den Arm aus, die Ringe verharrten in der Pfeil-Stellung, und zwischen den Steinen entstand die vertikale, vibrierende Fläche.
Maria Luisa und Tom hatten Jandro je eine Hand auf eine Schulter gelegt. Gemeinsam traten sie vor – und wären für einen zufälligen Beobachter von einem Herzschlag zum nächsten aus dieser Welt verschwunden.
Während Maria Luisas Staunen wie greifbar in der Luft lag und Jandro sich an seine Schwester drängte, ging Tom ihnen voraus, wiederum mit normalen Schritten die doppelte und dreifache Distanz überwindend. Seine Hand glitt in die Tasche. Er holte den Lederbeutel mit dem fast schwerelosen Himmelsstein heraus.
Links und rechts zogen die silbrig schimmernden, schemelartigen Gestelle vorbei, fast so, als bewegten auch sie sich, nur in die andere Richtung, und die Dinge darauf wechselten in so schneller Folge, dass Tom kaum eines richtig erkannte, und wenn doch, es gleich wieder vergaß.
Allein der Versuch, diesen Prozess zu erfassen, war schwindelerregend.
Er suchte einen leeren Hocker, um den Stein darauf abzulegen. Unterdessen nahm er ihn aus dem Beutel. Das Dunkelfeld ballte sich um seine Hand.
Nur eine leere Ablagefläche wollte sich nicht finden lassen. Auf jeder befand sich schon ein Artefakt.
»Leg das Ding doch einfach irgendwo dazu«, riet ihm Maria Luisa.
»Bleibt mir wohl nichts anderes übrig.«
Er fand einen Schemel, auf dem etwas lag, das auf den ersten Blick wie ein Uhrwerk ohne Gehäuse aussah. Es war klein wie ein Bierdeckel. Daneben blieb genug Platz für den dreizehnflächigen
Weitere Kostenlose Bücher