2.02 Der fluesternde Riese
so schön klingt. So schön und so feierlich und so fest und so stark. Doch genau das, Vanessa, kann man verraten: das Feste und Starke. Indem man es nicht mehr achtet und schätzt. Indem man es wegwirft. Indem man sich fortschleicht. Indem man jemand anders für etwas bestraft, für das man selbst die Schuld tragen sollte.“
„Ich verstehe dich nicht!“, sagte Vanessa und wusste, dass das eine Lüge war. „Was meinst du damit? Woran trag ich die Schuld?“
Sie verengte die Augen. Sie wurde nervös, und sie spürte die Feindseligkeit in ihr aufsteigen. Feindseligkeit gegenüber der Oma, gegenüber Marlon und dem Rest der Welt.
„Woran trag ich die Schuld?“, versuchte sie, ihrer Oma zu drohen, doch die wurde traurig. Sie drehte sich um und ging durch die Tür. Sie wollte sie schon hinter sich schließen. Da rief Vanessa noch einmal drohend:
„Woran verfuchst trag ich die Schuld?“
„Das kann ich nicht sagen.“ Ihre Oma hielt inne. „Das ging viel zu weit. Das musst du in dir selber spüren.“
Sie sagte das leise und ruhig und gleichzeitig mahnend und drehte sich dann zu Vanessa um.
„Weißt du? Wenn man sich trennt, dann geht man in Frieden. Dann fragt man den anderen, ob er es einem erlaubt. Und der gibt einem dafür seinen Segen. Hast du das schon mit Marlon gemacht?“
„Wie bitte? Ich?“
„Ja, du, wer denn sonst? Hast du Marlon gefragt? Hast du ihn und die anderen Kerle gefragt, ob sie dir das erlauben: dass du sie verlässt?“ Jetzt wurde die Oma richtig verächtlich: „Oder bist du nur weggerannt?“
Vanessa war sprachlos.
„Nun, Marlon hatte zumindest Mut. Auch wenn er wirklich nicht singen kann. Und deshalb hätte er es verdient. Er hätte verdient, dass du seinen Brief liest. Doch du läufst nur weg. Du bist ein Verräter. Du tötest Marlon in dir drin. Und mit ihm stirbt ein Teil deines Herzens. Und das ist der Grund, warum du dir deine Unterlippe zerkaust. Darf ich jetzt gehen?“, fragte sie zornig. „Ich hab alles gesagt. Es liegt jetzt an dir. Du musst dich entscheiden.“
Sie drehte sich um. Sie ging aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.
DER FREESTYLE SOCCER CONTEST TEIL 1
Nerv stand unterdessen auf der untersten Brücke von Donnerschlag , die sich über der Mittellinie auf derselben Höhe wie die Plattformen vor den Toren einmal quer durch die Höhle spannte. Er stand Rücken an Rücken mit Fli-Fla, die er um einen halben Kopf überragte, hielt in der einen Hand die Liane, in der anderen seinen Ball und starrte auf das Tor, über dem neben drei anderen Bannern das Banner der Wilden Kerle hing.
„Das ist noch das alte Logo!“, grinste der Kleine. „Das müssen wir ändern. Am besten malen wir es auf die Fahne der Biester, nachdem wir uns ihre Schlüpfer als Skalps an den Gürtel gebunden haben.“
Er schielte verschmitzt zu Leon und mir. Da drückte Fabi den Buzzer, den faustgroßen, roten und halbrunden Kopf, der unter der Stadionuhr in der Höhlenwand steckte. Der Hupton ließ Nerv zusammenfahren, doch Fli-Fla kletterte schon aufs Geländer.
„Wie war das noch mal? Wer trägt die Skalps von wem am Gürtel?“
Sie sprang von der Brücke, schwang sich an der Liane hinüber zum Tor der Biestigen Biester, und sie wäre bestimmt vor Nerv angekommen, hätte der die Liane nicht länger gefasst und sich an ihr über das Geländer in die Tiefe gestürzt. Nerv fiel 15 Meter im freien Fall, lief den Schwung der Liane am Stadionboden aus, potenzierte dadurch seine Geschwindigkeit und erreichte – trotz des schlechteren Starts und des längeren Wegs – eine Nanosekunde vor Fli-Fla die Plattform des Tores.
Dort ließ er die Liane noch vor der Landung los, drehte sich, noch bevor seine Füße die Plattform berührten, und donnerte seinen Ball mit dem besten Seitfallflugvolley-Dampfhammer-Booster seines Lebens in Richtung des Biestigen-Biester-Tores. Er ballte die Fäuste. Es lief wie geschmiert. Er hatte ganz knapp unter die Latte gezielt, und die spannte sich unerreichbar ein Meter zwanzig über Fli-Fla, der giftigen Zwergin.
„Glücksstern-geschnuppter Oberdusel!“, rief Nerv und sprang auf.
Ja, Fli-Fla hatte noch nicht mal geschossen. Sie starrte nur auf die schwarze Kugel. Die flog auf sie zu, und Raban umarmte schon Maxi und Markus. Juli und Leon sahen das Netz, wie es sich schmetterlingsflügel- und traumwolkenweich im nächsten Moment aufbauschen würde … Da sah ich, wie Fli-Fla ganz ruhig und ganz lässig die Liane losließ. Sie fasste
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