2030 - Chimaerenblut
Über dem Wald stoben schwarze Wolken auseinander, ließen ein Stück Mond durchscheinen.
Olga sprach zuerst. »Warum ist Josi stehen geblieben? Ich kapier´s nicht. Wir hatten doch ausgemacht, kein Risiko einzugehen.«
»Wir hätten sie nicht mitnehmen sollen. Sie ist erst seit ein paar Monaten in der Gruppe. Wir haben sie maßlos überschätzt.« Marcs Hände umklammerten das Lenkrad. Dann schlug er darauf ein. »Wieso ist sie nicht losgelaufen?«
Olga hielt seinen Arm fest. »Lass jetzt, es ist zu spät. Sie wird uns schon nicht verraten.«
Marc drehte sich nach hinten um. »Vielleicht sollten wir die Tiere nicht wie geplant bei Simon verstecken. Falls die Polizei eine Hausdurchsuchung macht.«
Leon blickte neben sich und sah, wie Simons verhufte Hand zitterte.
»Hat dich der Köter erwischt?«
»Ich glaube es ist nicht so schlimm«, presste Simon hervor.
»Zeig her.«
Simon öffnete die Faust seiner blutenden Hand. Der Pitbull hatte ihm den kleinen Finger abgebissen. Blut schoss aus der Wunde.
» Merde .« Leon ließ den Schraubenschlüssel fallen.
Olga drehte den Kopf nach hinten. »Was ist passiert?«
»Der Pit hat ihn gebissen. Sieh nicht hin!«
Leon griff hinter sich und suchte den Verbandskasten. Mit hektischen Bewegungen öffnete er die Kiste, riss ein Mullpäckchen auf, presste es auf Simons blutenden Fingerstumpf und umwickelte ihn mit einem Verband. »Hast du Schmerzen?«
»Nein.«
»Er ist unter Schock. Wir brauchen einen Arzt. Marc, lass uns am Krankenhaus raus.«
Leons Angst um Josi nahm jetzt noch mehr zu. Doch er konnte den anderen nicht sagen, was er in der Fabrik vorgefunden hatte. Die Aktion war völlig daneben gegangen.
»Wir haben Josi verloren«, sagte er.
»Blöder Fisch«, brummte Marc.
Leon fasste ihn an der Schulter. »Lass das. Wie ich Josi einschätze, verrät sie niemanden.
»Hoffentlich.« Olga zischte die Worte hervor. Sie riss das Handschuhfach auf, fand ein Päckchen Kaugummi, packte eins aus und begann nervös mit halboffenem Mund zu kauen. Ihr Katzenschwanz schlug unruhig gegen die Autotür. Dann lehnte sie sich zurück. »Ich glaub’ auch, dass sie die Klappe hält. Sie ist nicht blöd. Nur zu langsam.«
Sie bogen auf die Landstraße und durchfuhren eine Ortschaft. Eine Weile schwiegen sie, dann schlug Simon mit leiser Stimme vor, die Tiere im Wald freizulassen. »Wir vernichten damit alle Beweise.«
»Quatsch, wir deaktivieren die Chips, dann kann niemand nachweisen, wo die Hühner her sind.« Olga strich sich eine kupferfarbene Haarsträhne hinter die hochgestellten, behaarten Ohren. »Habt ihr von den Schrebergärten in Dahlem gehört?«
»Das Gelände, das früher zur Uni gehörte?« Leon blickte zu Simon, der mittlerweile käseweiß war.
»Ja, die Stadt hat die Anlage geschlossen. Im Herbst soll dort ein neuer Discounter entstehen. Noch sind da verlassene Gärten. Es gibt Streit mit den Eigentümern. Da können Marc und ich die Hühner lassen.«
Leon nickte matt. »Das ist eine gute Idee.«
Marc strich sich über den stoppelkurzen Bart. »Also zuerst Simon und Leon absetzen. Dann zu den Schrebergärten.« Er setzte den Blinker.
Leon dachte unentwegt an Josi. Hoffentlich verhielt sich der Wachmann der Hühnerfabrik vorbildlich und rührte sie nicht an. Ein olivfarben gekleideter Typ mit gedrungener Statue. Ein Kraftprotz, dem man die zugeführten Hormone auf zehn Kilometern Entfernung ansah. Leon hätte es auf einen Kampf ankommen lassen, wenn sie ihn aus dem Bus gelassen hätten. Er hätte den Pit mit dem Schraubenzieher abgewehrt. Leon konnte sich auf seiner körperlichen Kräfte verlassen. Seine langen Haare ließen ihn weicher erscheinen, als er tatsächlich war. Doch die Gruppe hatte letztendlich richtig entschieden. Ihnen war nur die Flucht geblieben.
Leon ballte vor Wut und Sorge um Josi die Faust. Ihre aufgerissenen Augen, als der Wachmann ihr die Maske vom Gesicht gerissen hatte, verfolgten ihn – und das bohrende Gefühl, versagt zu haben. Er hatte ein Mitglied seiner Gruppe verloren. Merde !
Gegen Morgen rief sein Kontaktmann Ole Baum an. Bis dahin hatte Leon kein Auge zugetan. Er war im Zimmer auf- und abgegangen und hatte mehrfach versucht, Josi zu erreichen.
»Hallo?«
»Ich bin es.«
»Endlich. Gibt es etwas Neues?«
»Josefine Garden wurde gegen Mitternacht von ihrer Mutter abgeholt.«
»Hat sie was gesagt?«
»Nein, sie hat hartnäckig über irgendwelche Mittäter geschwiegen, war angeblich alleine dort, wollte nur
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