Macabros 032: Kreatur der Verdammnis
Mitternacht. Bleich und geisterhaft wanderte die Mondscheibe
über den wolkenlosen Himmel. Das Licht des Erdtrabanten schuf
harte, schwarze Schatten, den Bäume und Sträucher warfen.
In der Mitte des Genfer Sees spiegelte sich die silberne Mondscheibe,
und das sich kräuselnde Wasser erweckte den Eindruck, als ob der
Mond zittere.
Ein Mann war unterwegs.
Er trug einen silbergrauen Rollkragenpulli, darüber ein
Sportjackett.
Der Spaziergänger atmete tief die milde, würzige Luft
ein. Es war eine wunderbare Mainacht.
Er war auf dem Weg zurück in eine kleine private Pension, wo
er jedes Jahr um diese Zeit Urlaub machte.
Daß es sein letzter sein sollte, konnte er in diesen
Sekunden noch nicht wissen.
Der Mann wurde beobachtet. Im Schatten der Bäume lauerte
etwas. Zwei glühende Augen waren auf den Spaziergänger
gerichtet. Es waren keine Menschenaugen – es waren die Augen
einer menschengroßen Spinne.
Plötzlich ein Brechen und Bersten, als das Untier sich durch
die Büsche schlug. Zweige brachen, das Laub raschelte unter den
gezackten Beinen, als das Geschöpf sich aufrichtete.
Aus dem Frieden und der Stille, die noch eben herrschten, wurde
die Hölle.
Der einsame Spaziergänger wußte nicht, wie ihm
geschah.
Schwarze, behaarte Beine umschlangen ihn plötzlich.
Der Mann wollte sich noch herumwerfen, um dem Gegner in die Augen
zu sehen.
Die Glieder der Spinne drückten ihm die Kehle zu und rissen
ihn zu Boden.
Der Spaziergänger versuchte zu schreien. Aber nur ein dumpfes
Gurgeln kam aus seiner Kehle.
Die großen, dunklen Augen der fürchterlichen Kreatur
waren auf das Opfer gerichtet, die Freßwerkzeuge bewegten sich
nach unten.
Pfeifender, rasselnder Atem drang aus dem Maul der
Spinne…
Die Freßzangen schlugen zu. Das Jackett oberhalb der
Schultern riß. Die Klauen bohrten sich in das Fleisch des
Unglücklichen.
Der Mahn versuchte sich herumzuwerfen, um dem gespenstischen Wesen
noch zu entfliehen, aber seine Anstrengungen waren vergebens.
Der Leib drückte ihn ins feuchte Laub. Sein Bewußtsein
war schon so getrübt, daß er das Schreckliche seiner
Situation gar nicht mitbekam.
Eine wohltuende Ohnmacht nahm ihn gefangen, und in dieser
Bewußtlosigkeit kam das Ende.
Die Spinne zerrte ihr blutendes Opfer tiefer in das seenahe
Gestrüpp und begann dort schließlich mit einer seltsamen
Prozedur.
Mit ihren Klauen schaufelte sie eine flache Mulde, gerade so
groß, daß die Beute hineinpaßte. Sie spann den
Toten ein in ein Netz aus schimmernden, klebrigen Fäden und warf
das kokonartige Gebilde in das vorbereitete Erdloch. Mit lockerer
Erde und Laub deckte sie das Grab, das sie geschaufelt hatte, wieder
zu und verschwand mit staksigen Schritten bäuchlings im
Buschwerk.
Ein Drama hatte sich erfüllt, in dem zwei Menschen verstrickt
waren.
Der eine wußte es nicht, weil er nicht mehr lebte, der
andere nicht, weil in diesen Minuten sein menschliches Fühlen
und Denken ausgeschaltet war und er als Lykantrop, als Tiermensch,
sein Dasein fristete.
*
»Ist er das?« fragte der Mann in dem taubenblauen
Anzug.
»Ja.« Der Weißbekleidete hielt einen dünnen
Zigarillo in der Hand und blickte angespannt nach unten.
Die beiden Männer, die auf der verglasten Veranda im sechsten
Stock des Hauptgebäudes des Sanatoriums standen, waren etwa im
gleichen Alter.
Der Zeitgenosse in dem taubenblauen Anzug war niemand anders als
ein bekannter Schweizer Fernsehreporter, der eine populäre
Sendereihe unter dem Titel ›Schicksale von heute‹ selbst
zusammenstellte und moderierte. Peter Korten war ein sportlicher,
schmalhüftiger Typ und sah gut aus. Das war sicher einer der
Hauptgründe, weshalb über fünfzig Prozent aller
Zuschauer, die an der Sendereihe interessiert waren, dem weiblichen
Geschlecht angehörten. Dies hatten Statistiker errechnet, und
die mußten es schließlich wissen.
Korten war stets auf der Suche nach aktuellen und
ungewöhnlichen Themen. Das Schicksal des Mannes der dort unten
auf dem Parkweg spazierenging, interessierte ihn.
Dieser Mann, den Dr. Mattern seit etwa einem Vierteljahr in seinem
Sanatorium zur Behandlung und Beobachtung hatte, war in der Tat
ungewöhnlich.
Der Patient war von einem Schweizer Gericht für schuldig
befunden worden, in einem Anflug von Raserei seinen
vierzehnjährigen Sohn auf bestialische Weise umgebracht zu
haben. Die Geschichte, die der Mann daraufhin erzählte, klang so
absurd, daß niemand ihm Glauben schenkte. Sie führte nur
dazu, daß man
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