2063 - Zikanders Körper
... Würde ihn das ausfüllen können? Würde es ihn sein früheres Leben vergessen lassen können? Er konnte es noch nicht abschätzen, er war viel zu aufgewühlt, um solche Schlussfolgerungen ziehen zu können. Auf jeden Fall hatte ihn Dolmor mit seiner Eröffnung völlig umgekrempelt. Er war von einem Selbstmordkandidaten zum Hoffnungsträger geworden.
Dolmor hatte ihn in keiner Weise bedrängt. Dem Druiden war es wohl in erster Linie darauf angekommen, ihn von seinen Absichten abzubringen und zum Denken anzuregen. Dolmor würde zu seinem Wort stehen, wann immer Sig-Zikander um Sterbehilfe bat. Nachdem sich Sig-Zikander geistig mit seiner neuen Existenz auseinandergesetzt hatte, wollte er versuchen, seinen neuen Körper beherrschen zu lernen. Und er erkannte, dass das besser ging, als er befürchtet hatte. Das hing natürlich mit seiner positiveren Einstellung zusammen. Er sah sich nicht mehr als nutzlose Kreatur, sondern als potentiellen Legionär. Sig-Zikander lernte, seine Beine zu gebrauchen. Sein Gang war steif, denn noch immer war es ihm nicht möglich, die Kniegelenke abzubiegen. Aber allmählich fand er, dass die Steifheit seiner Beine seinem Schritt etwas Würdevolles verlieh.
Nachdem er seine Beine gebrauchen konnte, ging er auf Erkundung. Es gab in diesem Riho Myh'Seylegiar keine Sperr zonen, die er nicht betreten durfte, niemand stellte sich ihm in den Weg. Auch nicht die Doppelstabroboter, die ständig seinen Weg kreuzten. Das ermutigte ihn, in immer fernere Regionen vorzudringen. Bei seinen folgenden Exkursionen begegnete er gut einem Dutzend anderer Druiden. Sie beantworteten geduldig seine Fragen und gaben ihm bereitwillig Auskunft über den jeweiligen Zustand ihrer Patienten. Er forschte nach, ob auf Dyffro VII ein Puraner gerettet worden sei, aber alle Druiden verneinten das. So musste er sich damit abfinden, Romild Viscosimo verloren zu haben.
Eines Tages gerieten sämtliche Druiden auf einmal in Hektik. Sig-Zikander konnte den Anlass dafür nicht sofort herausfinden. Aber dann suchte er Dolmor auf, und der war wenigstens bereit, ihm den Grund für die Aufregung zu nennen. „Die Seuche hat den Planeten Syrkiin IV im Cluster 0092 entvölkert. Wir bekommen in Kürze 67 Neuzugänge." Es dauerte nicht lange, bis über dem Areal des Sanatoriums ein Legionsschiff in Schwebe ging.
Schwärme von Stabrobotern stiegen hoch und kehrten mit zylinderförmigen Tanks von vier Metern Höhe zurück. Diese stellten sie auf dem Dach des Hauptgebäudes ab. Sig-Zikander wusste nun, welche Bedeutung den großräumigen Antigravaufzügen zukam, die er bei seinen Ausflügen entdeckt hatte. Über diese wurden die Tanks nacheinander ins Gebäude geholt und in eigens dafür bereitgestellten Räumlichkeiten untergebracht.
Von Neugierde getrieben, suchte Sig-Zikander einen solchen Raum auf, in dem bereits ein Zylinder untergebracht war. Er wies in zweieinhalb Metern Höhe einen rundum verlaufenden Steg auf, zu dem eine Treppe führte. Obwohl ihn ein beklemmendes Gefühl beschlich, stieg er zu dem Steg hinauf.
Der Tank war an seiner Oberseite offen und mit einer trüben Flüssigkeit bis zum Rand angefüllt. Sie war von Unreinheiten durchsetzt, Hautreste und andere Zellablagerungen schwammen darin, und aus der Tiefe schimmerte ein großer, unförmiger, konvulsivisch zuckender Klumpen aus Fleisch und Knochen durch ... „Sig-Zikander!" erscholl eine Stimme hinter ihm. „Das ist wohl nicht die richtige Beschäftigungstherapie für dich." Er sah einen Druiden hereinstürmen, aber es war nicht Dolmor. Offenbar hatte er unter den Therapeuten einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Sig-Zikander erschütterte der Anblick der Kreatur in dem Überlebenstank zutiefst. Es wurde ihm bewusst, dass einst er in einem solchen Tank gelegen hatte und von Dolmor begutachtet worden war. Sig-Zikander verkroch sich tagelang in seiner Suite. Er würde den Anblick des in seinen eigenen Absonderungen badenden Monstrums nie vergessen. Der Anblick erinnerte ihn zu sehr daran, was er selbst gewesen war. Er konnte auf einmal nicht mehr positiv denken, verstieg sich in Mitleid und Abscheu vor sich selbst.
Wenn Dolmor in dieser Phase des Ungemachs zu ihm gekommen wäre, hätte er ihn um den Gnadenakt gebeten. Aber irgendwann überwand er dieses Tief. Der Schock verflüchtigte sich allmählich, und danach war er praktisch unverwundbar, abgehärtet und abgestumpft. Das Schicksal der Kreatur in dem Überlebenstank berührte ihn in keiner Weise mehr.
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