Zeitenlos
Kapitel 1
Der Unfall
G ewöhnlich zog mit dem Ende des Sommers eine große Wolke Trübsal auf. Aber nicht in diesem Jahr. Zum ersten Mal kam der September mit dem beruhigenden Wissen näher, dass ich im Schlafanzug zur Schule gehen konnte.
Okay, gehen ist übertrieben. Um ehrlich zu sein, musste ich, was die Schule betraf, nirgendwohin. Ich wälzte mich buchstäblich aus dem Bett, warf den Laptop an, putzte mir die Zähne und loggte mich dann in meinen Stundenplan ein. Es gab keine schlechten Tage mehr, zumindest keine, an denen mich jemand zu Gesicht bekam. Und es gab auch keine Tage mehr, an denen ich nicht wusste, was ich anziehen sollte, keine Berge von Klamotten mehr auf dem Bett, die mir nicht gefielen. Es war alles so einfach. Allein der Gedanke daran nahm meinem letzten Schuljahr viel von seinem Schrecken.
Doch der Weg dahin war nicht leicht gewesen, denn mein scheinbares Glück hatte seinen Preis gehabt. Ich hatte drei Umzüge in drei verschiedene Bundesstaaten über mich ergehen lassen müssen, ehe meine Mutter endlich einsah, dass ich nicht schon wieder als »die Neue« in der Klasse von vorn anfangen konnte. Sie selbst war kontaktfreudig, jeder Umzug war für sie eine Chance, »zu sehen, was da draußen so los ist«. Ich aber hatte nach dem dritten Umzug genug gesehen, und das wusste sie. Deshalb ist mir ihr besorgter Gesichtsausdruck auch noch gut in Erinnerung, als sie das Thema ansprach. »Sophie«, sagte sie, als ich vier Monate der elften Klasse hinter mir hatte. »Ich möchte zurück nach Kalifornien.«
Es ist schon seltsam, dass ich bei diesen Worten nicht ausgerastet bin. Wobei, genau genommen gefiel mir die Idee sogar. Dort war ich zur Welt gekommen, dort lebte meine Oma. Meine einzige Sorge war der Umzug mitten im Schuljahr – doch dann rückte meine Mutter mit der Sprache heraus: Oma war krank. Weil wir sie nicht sich selbst überlassen konnten, zogen wir also um. Meine beste Freundin Kerry und die schneereichen Winter von Virginia tauschten wir gegen die weit entfernte, aber vertraute Sonne Kaliforniens ein.
Der Gedanke, schon wieder von vorne anfangen zu müssen, hatte mich zunächst fast in Selbstmitleid versinken lassen, aber dann entdeckte meine Mutter, dass es in Kalifornien eine Online-Highschool gab. Das bedeutete, dass ich nicht schon wieder das neue Mädchen der Klasse sein würde. Ich vergeudete keine Zeit und schrieb mich ein. Und kaum war das erledigt, ergab sich alles andere fast von selbst.
Meine Mutter fand einen Job in einer der Kliniken auf dem Campus der Universität von Berkeley und kaufte uns ein gelbes Haus mit zwei Schlafzimmern vor den Toren San Franciscos. Es war ein kleines altes Haus, aber sie sagte, es habe »gute Knochen«. Ich hoffte nur, dass die avocadogrünen Elektrogeräte nicht Teil des Skeletts waren.
Das Schönste an dem Haus war die Aufteilung. Ein Schlafzimmer befand sich im ersten Stock, das andere unten; beide hatten Zugang zu der doppelstöckigen Veranda mit ihrem unglaublichen Blick über die hügelige Landschaft. Ich hätte mich in jedem der beiden Zimmer wohlgefühlt, aber meine Mutter bestand darauf, dass ich das obere nahm, weil ich dort mehr Platz hätte, um mir einen Arbeitsplatz einzurichten.
Außerdem hatte ich oben viel Privatsphäre; wie sich zeigen sollte, würde ich mehr davon brauchen, als wir beide erwartet hatten.
Nach wenigen Wochen meinte Mama jedoch, dass ich dort oben zu viel Zeit alleine verbrächte und mehr Kontakt zu anderen Jugendlichen bräuchte. Sie begann mich zu nerven, dass ich an schulischen Veranstaltungen teilnehmen und öfter unter Leute gehen sollte. Mama hatte gut reden; sie unterhält sich sogar mit Fremden im Fahrstuhl. Die Vorstellung von mir auf Rollschuhen, Schlange stehend für ein Eis oder auf irgendeinem Schulausflug fand ich absolut nicht erbaulich. Außerdem würde damit der Zweck der Übung verfehlt, mir die peinlichen Versuche zu ersparen, neue Freunde zu finden. Ich suchte so lange nach Ausflüchten, bis sie mir schließlich ein Ultimatum stellte.
Die Alternative war, einmal in der Woche mit ihr auf dem Campus von Berkeley zu Mittag zu essen. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass dieser Vorschlag gar nicht so schlecht war. Immerhin ermöglichte Mama mir, die Onlineschule zu besuchen, sodass ich das Haus ansonsten nicht verlassen musste. Der einzige visuelle Kontakt, den ich zu Jugendlichen meines Alters hatte, war der grüne Punkt neben ihren Namen, wenn wir gleichzeitig online waren.
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