2084 - Noras Welt (German Edition)
die globale Erwärmung geschrieben hatte.
»Wissen Sie es denn?«, fragte sie frech. »Könnten Sie’s erklären, wenn Sie wollten?«
Und tatsächlich versuchte es der sympathische Seelendoktor, während er den Computer ausschaltete und ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch zusammenschob. Er begann mit dem Kreislauf, den das Kohlendioxid in der lebendigen Natur durchmacht. Die Pflanzen nehmen das Kohlendioxid durch die Photosynthese aus der Luft und binden es an sich, also an lebende Organismen, während dasselbe Gas durch den Atem der Tiere und den Zerfall organischen Materials an die Luft abgegeben wird. Mit der Kohlendioxid-Bilanz meinte der Doktor dann vor allem das wunderbare Gleichgewicht zwischen der Menge Kohlendioxid, die durch Vulkanausbrüche in die Atmosphäre kommt, und der, die durch Wind und Wetter freigesetzt und am Ende in der Erdkruste gebunden wird. Diese Mengen waren über Hunderttausende von Jahren nahezu konstant, und weil die Menschen keinerlei Einfluss auf diesen Kreislauf hatten, brauchte er sie nicht zu interessieren.
»Das Kohlendioxid, das für Jahrmillionen in Öl, Kohle und Gas eingelagert war, war dem Kreislauf entzogen, und das haarfein austarierte Gleichgewicht …«
Nora sprach Dr. Benjamins Satz zu Ende: »… das haarfein austarierte Gleichgewicht haben die Menschen in Gefahr gebracht, als sie anfingen, Öl, Kohle und Gas zu verbrennen und damit zusätzliches CO 2 in die Atmosphäre zu blasen.«
»So ist es, ja. Und obwohl das von uns Menschen zusätzlich freigesetzte CO 2 nur ein kleiner Bruchteil dessen ist, was sich im natürlichen Kreislauf bewegt, entsteht eben doch ein Überschuss, den die Natur nun nicht mehr in der Erdkruste einlagern kann. Das ist der Grund, weshalb immer mehr CO 2 in die Atmosphäre gelangt.«
»Wo es sich festsetzt«, sagte Nora.
»Genau, du kennst dich aus. Es ist im Grunde wie bei uns Menschen. Wenn wir jeden Tag ein paar Kalorien mehr zu uns nehmen, als unser Körper zum Leben braucht, setzen wir mit der Zeit Fett an. Die Atmosphäre setzt sozusagen CO 2 an …«
»… und auf der Erde wird es davon wärmer. Je mehr CO 2 sich in der Atmosphäre ansammelt, desto wärmer wird es auf der Erde. Dann schmelzen Eis und Gletscher, und alles wird noch schlimmer, weil Eis und Schnee viel mehr Sonnenlicht und damit Wärme reflektieren als das Meer und die Berge, also wird die Erde noch mal wärmer …«
»›Verstärkende Rückkopplung‹ sagen die Fachleute dazu …«
»… bis sogar der Bodenfrost in der Tundra verschwindet. Von dort werden dann Methan und wieder Kohlendioxid in die Atmosphäre abgegeben. Methan ist noch so ein starkes Treibhausgas, und die Erde wird noch weiter erwärmt. Es gibt immer mehr Wärmedampf in der Atmosphäre, und schon ist es wieder ein Stück wärmer. Als Nächstes kommt das Grönlandeis an die Reihe und danach vielleicht das Eis in der Antarktis …«
Dr. Benjamin hob die Hand, und Nora wusste natürlich, dass er sie bremsen wollte, aber sie war jetzt in Fahrt und wollte die Gelegenheit, einen so aufmerksamen Zuhörer zu haben, noch ein bisschen nutzen.
»Wenn der Treibhauseffekt aus dem Ruder läuft, steigt im schlimmsten Fall die Durchschnittstemperatur auf der Erde um sechs bis acht Grad. Dann verschwindet womöglich alles Eis auf dem Planeten, und die Meere steigen um wer weiß wie viel Dutzend Meter. In der altnordischen Mythologie hatten sie ein eigenes Wort dafür, was dann vielleicht passiert: Götterdämmerung.«
Dr. Benjamin war inzwischen aufgestanden, um sie hinauszubegleiten. Bevor er die Tür öffnete, sagte er: »Vielleicht solltest du mit Jonas eine eigene Umweltgruppe gründen, so einen wütenden kleinen Tiger an dem Ort, wo ihr wohnt. Es wäre wahrscheinlich das Beste, was du gegen deine Angst vor der Klimakatastrophe tun kannst. Auch wenn es keine Krankheit ist, ist so eine Angst auf die Dauer nicht gesund. Sie kann, da spreche ich jetzt wieder als Psychiater, durchaus krank machen . Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Lass diese Angst aus dir raus, Nora. Nutze sie!«
Er wühlte in seiner Jackentasche und reichte ihr seine Visitenkarte.
»Ruf mich einfach an oder schick mir eine Mail, wenn du über irgendetwas reden möchtest. Ich lebe allein, da macht es gar nichts, wenn du dich gelegentlich meldest.«
Als sie ins Wartezimmer kamen, reichte der sympathische Dr. Benjamin Noras Mutter und Jonas die Hand und sagte: »Ich muss mich bedanken, dass ich mir Nora kurz ausleihen durfte.
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