2084 - Noras Welt (German Edition)
Glauben Sie mir, Sie können von Glück sagen, dass Sie jeden Tag mit einer so starken Persönlichkeit zusammen sein dürfen.«
Vor lauter Verwirrung machte ihre Mutter einen angedeuteten Knicks. Später dann, als sie mit der Straßenbahn in Richtung Innenstadt fuhren, fragte sie, warum der Psychiater wohl einen Stern im Ohrläppchen trug – als ob Nora ihr das hätte sagen können! Andererseits wussten die beiden anderen ja nicht, worüber Nora und der Seelendoktor gesprochen hatten, also konnte sie auch eine Antwort erfinden.
»Er trägt einen Stern im Ohrläppchen, weil ihm aufgegangen ist, dass wir auf einem sehr verletzlichen Planeten leben, der seine Bahn um einen Stern im Weltraum zieht. Das ist nicht allen Menschen klar, und nur die, denen es klar ist, dürfen den blauen Stern tragen.«
Als die beiden sie verständnislos anstarrten, fügte sie hinzu: »Ein erwachsener Mann hätte doch wohl keinen Stern im Ohrläppchen, wenn es für ihn keine Rolle spielte, dass er auf einem Himmelskörper lebt.«
Noras Mutter fuhr dann schon am Nachmittag nach Hause. Nora und Jonas spazierten noch Hand in Hand durch die Hauptstadt und nahmen erst den allerletzten Zug. Sie besuchten Frogner Park und Aker Brygge und schauten auch beim Umwelthaus in der Innenstadt vorbei, wo viele Umweltorganisationen ihre Büros hatten. Auf dem Heimweg schmiedeten sie dann schon Pläne für die Umweltgruppe, die sie selbst gründen wollten. Jonas war von der Idee gleich angetan gewesen.
Seine Aufgabe sollte es erst einmal sein, Mitglieder anzuwerben. Nora hatte das so vorgeschlagen, weil sie wusste, dass viele Mädchen Jonas für den attraktivsten Jungen der ganzen Schule hielten. Sie meinte, da brauche er sich bestimmt nicht groß anzustrengen, um ein paar davon zu rekrutieren. Er lachte.
»Aber eine reine Mädchengruppe soll es nicht werden?«
»Natürlich nicht. Aber wenn du ein paar attraktive Mädchen anlockst, kommen automatisch auch interessante Jungs.«
Noras Hauptaufgabe sollte darin bestehen, im Internet und in Zeitungen und Zeitschriften nach Artikeln über die Umweltproblematik zu suchen. Deshalb schaute sie heute, ein paar Wochen später, den Riesenstapel Zeitungen durch. Nach einer unergiebigen Klimakonferenz in Katar war an den vergangenen Tagen besonders viel über das Thema berichtet worden. Um aktuelle Videos und Tonmitschnitte auf YouTube, in Podcasts und allen möglichen Foren wollte sie sich später kümmern.
Nora legte die Schere weg und setzte sich zu ihren Eltern vor den Fernseher. In dem Film ging es gerade um den englischen Kapitän Cook, der auf Tahiti eine sogenannte Venuspassage beobachtete. Bei einer Venuspassage zieht der Planet Venus vor der Sonnenscheibe vorüber, ein seltenes Phänomen, das manchmal nur im Abstand von über hundert Jahren zu beobachten ist. Zu Zeiten Kapitän Cooks war es wichtig, die Venuspassage an mehreren Orten auf der Erde gleichzeitig zu beobachten, weil die Astronomen die Ausdehnung des Sonnensystems berechnen wollten und dazu unterschiedliche Messdaten brauchten.
Nora fand es eigentlich einen romantischen Gedanken, dass ein englischer Kapitän ausgerechnet wegen eines Planeten in die Südsee reiste, der seinen Namen einer Liebesgöttin verdankte. Dem Film zufolge interessierten sich der Kapitän und seine Mannschaft allerdings mehr für die Frauen auf der exotischen Insel als für die Venus und irgendwelche Entfernungen im Weltraum.
Auf den Film und den Abspann folgten die Nachrichten. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU stand bevor, weshalb 21 Regierungschefs in Oslo weilten … Eine norwegische Entwicklungshelferin war im Grenzgebiet zwischen Kenia und Somalia als Geisel genommen worden. Ihr Name war Ester Antonsen, und sie arbeitete für das Welternährungsprogramm …
Nora sagte ihren Eltern Gute Nacht und nahm die Zeitungsausschnitte und ihr neues Smartphone vom Tisch. Bevor sie nach oben in ihr Zimmer ging, holte sie ein Buch aus dem Regal neben dem Kamin. Es war ein Roman von George Orwell, in dem sie schon einmal gelesen hatte: 1984 . Vielleicht würde sie sich vor dem Einschlafen noch ein Kapitel vornehmen. Sie musste nicht früh aufstehen, denn morgen war ein sogenannter Planungstag für die Lehrer, und die Schülerinnen und Schüler hatten frei. Abgemacht war nur, dass Nora gleich nach dem Aufwachen Jonas anrief.
Es war ein langer und besonderer Tag gewesen. Sie hatte Tante Sunnivas alten Ring geerbt, und sie hatte das nagelneue Smartphone
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