2084 - Noras Welt (German Edition)
nicht gerechnet. Sie war sich im Gegenteil ganz sicher gewesen, dass sie nicht krank war, und nur der Ordnung halber erinnerte sie den Arzt daran, dass sie manchmal fest an ihre Fantasien glaubte. Sie erklärte ihm, in solchen Fällen komme es ihr vor, als ob sie das, was ihr dann in den Sinn kam, eher empfange, als dass es irgendwo in ihrem eigenen Kopf entstehe.
Dr. Benjamin nickte nachdenklich.
»Ich glaube, das habe ich verstanden«, sagte er. »Deine Fantasie schießt manchmal übers Ziel hinaus, und wenn das geschieht, kann es gut sein, dass dir Dinge mehr als nur ausgedacht oder eingebildet erscheinen. Fantasie ist etwas, das allen Menschen eigen ist, es haben nur die einen mehr und die anderen weniger davon. Alle Menschen träumen, aber nicht alle wissen am nächsten Morgen noch, was sie geträumt haben. Vor allem in dieser Hinsicht scheinst du eine seltene Begabung zu besitzen. Du nimmst in den Tag mit, was du nachts geträumt hast …«
Sie legte jetzt ganz bewusst alle Karten auf den Tisch und sagte: »Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass die Träume aus einer anderen Wirklichkeit kommen, oder aus einer anderen Zeit.«
Wieder nickte der Psychiater.
»Auch solche Gefühle und Ahnungen sind tief in unserem Wesen als Menschen begründet. Die Menschen hatten zu allen Zeiten Erlebnisse, die sie den Kontakt zu übernatürlichen Mächten spüren ließen, ob es nun Götter waren, Engel oder Ahnen. Manche waren sich sogar sicher, solche Wesen mit eigenen Augen gesehen zu haben, oder behaupteten, sie seien ihnen leibhaftig begegnet. Auch das, was man unsere Glaubensfähigkeit nennen könnte, ist bei manchen Menschen höher entwickelt als bei anderen. Auch hier ist jeder Mensch anders. Einige sind nahezu dem ganzen Rest der Menschheit im Schach oder Kopfrechnen überlegen, andere übertreffen ihre Mitmenschen, was ihre Glaubensfähigkeit betrifft oder ihre Gabe zu fantasieren, und zu Letzteren zählt auch eine gewisse Nora Nyrud.«
Sie schaute wieder nach draußen, wo das Sonnenlicht in den bunten Blättern der Bäume spielte.
»Eine ernsthafte psychische Störung hättest du zum Beispiel, wenn du glaubtest, dass die Bienen und Hummeln zu Hause in eurem schönen Garten von der CIA gesteuert werden und dort nur herumschwirren, weil sie den Auftrag haben, dich zu bespitzeln …«
»Woher wissen Sie, dass wir zu Hause einen Garten haben?«, unterbrach sie ihn.
»Deiner Psychologin gegenüber hast du angeblich erwähnt, dass du keine Rentiere in eurem Garten haben möchtest.«
Nora lachte.
»Das mit den Rentieren hat sie falsch verstanden, aber es stimmt, wir haben einen Garten. Ich hab ihn sehr gern, und was die Bienen betrifft …«
»Ja?«
»Bienen sind ein Teil der Natur wie wir beide, und klar werden sie nicht von der CIA gesteuert, sondern von ihren Genen. Außerdem sind sie eine Art Botschafter, die uns sagen, wie es um Mutter Erde steht. Das glaube ich jedenfalls.«
»Genau wie ich«, sagte der Psychiater mit dem Pferdeschwanz. »Woran wir wieder sehen, dass man nichts von dem, was du mir erzählst, als Spinnerei abtun kann – und schon gar nicht als das, was wir in unserer Fachsprache ›bizarr‹ nennen.«
Während des ganzen Gesprächs hatte er gelegentlich einen Blick auf den Bildschirm seines Computers geworfen. Als er es jetzt wieder tat, ging ihr auf, dass er wahrscheinlich einen ausführlichen Bericht ihrer Psychologin vor sich hatte. Er fragte: »Gibt es etwas, wovor du dich fürchtest, Nora?«
Sie antwortete, ohne zu zögern.
»Die globale Erwärmung.«
Der nachdenkliche Psychiater schien kurz zusammenzuzucken. Er war offensichtlich ein erfahrener Arzt, aber dieses eine Mal schien er von ihrer Antwort überrascht.
»Wie war das?«
»Ich wollte sagen, dass ich Angst vor dem von uns Menschen verursachten Klimawandel habe. Ich habe Angst, dass wir heute Lebenden das Klima und die Umwelt ohne Rücksicht auf unsere Nachfahren in große Gefahr bringen.«
Dr. Benjamin überlegte kurz, dann antwortete er: »Was mir eine durchaus berechtigte Angst zu sein scheint, die ich dir aber leider nicht nehmen kann. Wenn du zum Beispiel Angst vor Spinnen hättest, wäre es etwas anderes. Bei Phobien, wie wir solche Ängste nennen, kann eine Therapie helfen, etwa eine schrittweise Gewöhnung an das, wovor ein Patient oder eine Patientin sich fürchtet. Die Angst vor der globalen Erwärmung können wir nicht behandeln.«
Nora schaute Dr. Benjamin in die Augen und dann auf den Stern in seinem
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