21 - Die achte Flotte
Experten vertrat allerdings die Ansicht, dass bei der SLN die Scheuklappen so fest saßen, dass diese Berichte still und leise abgelegt und ignoriert worden waren … vorausgesetzt, man hatte sie nicht einfach gelöscht. Die Systemverteidigungskräfte waren schließlich nur lokale Abwehrstreitkräfte − die zweitrangige Miliz nach der erstrangigen, professionellen SLN. So jemand musste in seinen Ansichten beschränkter sein, und ohne die solide Ausbildung und die gewaltige Erfahrung der SLN neigten sie zudem zu unangemessener Schwarzseherei. Ganz zu schweigen davon fehlte ihren »Beobachtern« der solide Kern des institutionellen und beruflichen Könnens der regulären Navy, sodass es wahrscheinlicher wurde, dass sie missverstanden, was fragliche Neobarbaren sie sehen ließen − und es war sogar durchaus möglich, dass sie vorsätzlich getäuscht wurden. Selbst wenn der solarische Flottennachrichtendienst sich für ihre Aufrichtigkeit verbürgt hätte − die etablierten Analysemethoden, die auf getestete und bewährte Techniken setzten, mussten verlässlicher sein als Berichte von Leuten, die im Grunde wenig mehr waren als beobachtende Reservisten, die wahrscheinlich von den Neobarbaren an der Nase herumgeführt wurden, damit sie sahen, was sie sehen sollten.
So jedenfalls verstand das ONI die gegenwärtige Haltung und die aktuellen Entscheidungsprozesse der SLN, und dass die Solarier keine Anstrengungen unternommen haben, ihre Waffen und ihr Gerät zu verbessern, schien diese Deutung zu untermauern. Nicht nur Michelle zog es allerdings vor, nicht allzu sehr auf diese spezielle Annahme zu bauen. Dass kein neues Gerät eingesetzt wurde, bedeutete nicht unbedingt, dass nichts entwickelt wurde, und aller Arroganz und Herablassung zum Trotz blieb die Tatsache bestehen, dass die Liga über den größten Pool an menschlichem Talent und Reichtum aller politischen Gebilde der Menschheitsgeschichte verfügte. Wenn die SLN jemals den Kopf aus dem Sand zog, konnte sie dank dieses Talents und Reichtums rasch so furchterregend werden, wie sie bereits zu sein glaubte.
Ob nun mehr geforscht und entwickelt wurde, als bekannt war, oder nicht, die Quellen des ONI innerhalb der SLN schienen darin übereinzustimmen, dass eine gewaltige Mehrheit der solarischen Raumoffiziere den offenbar wild übertriebenen Behauptungen über manticoranische und havenitische Wehrtechnik nur sehr wenig Glauben schenkte. Auf der Grundlage von Spuren aus der Schlacht von Monica mussten die Solarier (oder wenigstens einer ihrer größeren Rüstungskonzerne) mit Raketengondeln neueren Typs zumindest experimentieren, was man zuvor für unter ihrer Würde gehalten hatte, und die Antriebe ihrer Raketen hatten sich als stärker und ausdauernder erwiesen als erwartet. Doch keine der abgefeuerten Raketen − oder genauer, an Monica gelieferten Lenkwaffen − war eine Mehrstufenrakete gewesen, die Gondeln verfügten nicht über Gravkatapulte neuester Generation, die einen wesentlichen Bestandteil der manticoranischen Baumuster darstellten, und es hatte keine Berichte über Verbesserungen bei den Beschleunigungswerten solarischer Kampfschiffe gegeben, die im Vergleich zu denen der Manticoranischen Allianz oder sogar der Republik Haven niedrig und ineffizient waren. Nachdem das Office of Naval Intelligence all das zusammengerührt und sorgsam überdacht hatte, war es zu dem Schluss gelangt, dass man von der SLN zumindest einige Verbesserungen zu erwarten habe, bei denen es sich wahrscheinlich um das Ergebnis privat finanzierter Forschung und Entwicklung von Konzernen wie Technodyne handeln würde, wesentliche Neuerungen aber zumindest kurzfristig unwahrscheinlich seien.
Aufgrund dessen hatte die Admiralität alle Kommandanten angewiesen, in Gegenwart solarischer Kriegsschiffe siebzig Prozent des Maximalschubs nicht zu überschreiten. Die Benutzung von Geisterreiter und Überlichtcom sollte so weit wie möglich vermieden werden. Außerdem durften in solarischem Hoheitsraum keine Feuerübungen mit Mehrstufenraketen abgehalten werden.
Daher betrug die maximal erlaubte Beschleunigung der Artemis nur 4,7 Kps 2 , sodass sie bis zum Parkorbit um Monica fast dreieinhalb Stunden benötigte − mehr als genug Zeit, dass Aufklärungsdrohnen, die sich die Umgebung genau ansahen, auch lichtschnell berichten konnten.
»Gut, Dominica«, begann Michelle und blickte Commander Adenauer an. »Vergewissern Sie sich, dass die Gravimpulscoms abgeschaltet sind, dann feuern Sie sie
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