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21 - Im Reiche des silbernen Löwen II

21 - Im Reiche des silbernen Löwen II

Titel: 21 - Im Reiche des silbernen Löwen II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Steinen bestand. Wir hatten ihn vorhin in der Entfernung nicht von der Mauer unterscheiden können. Wir stiegen ab und entdeckten, sobald wir nur einige der Konglomerate entfernt hatten, eine breite, doch nur halb mannshohe Öffnung, welche schief abwärts in das Innere zu führen schien. Ich kroch hinein und spürte einen starken Moderduft und zugleich jenen eigentümlichen und nicht zu verwechselnden Geruch, welcher auf das Vorhandensein von Leichen deutet, selbst wenn der Tod erst vor wenigen Stunden eingetreten ist.
    Indem ich mich, vorsichtig nach allen Seiten mit den Händen tastend, weiterschob, gewahrte ich, daß die Decke über mir in waagrechter Richtung verlief, während der Boden abwärts ging und der Gang, in welchem ich mich befand, also nach und nach tiefer wurde. Es war Sand, auf dem ich mich bewegte; die Wände und die Decke waren glatt; ich fühlte keine Ritzen zwischen den einzelnen Steinen. Wenn das auf eine Asphaltschicht deutete, so war das, was ich Gang genannt habe, wohl ein Kanal gewesen, welcher den Zweck hatte, das Innere des Birs vom ehemaligen Bett des Euphrat her mit Wasser zu versorgen. Durch den vom Westwind herbeigewehten Sand war nach und nach draußen der Boden erhöht und die Mündung des Kanals bis fast ganz oben herauf verschüttet worden. So erklärte sich auch das Vorhandensein des Sands im Innern, der immer weniger wurde, je weiter ich hineingelangte, so daß ich bald nicht mehr zu kriechen brauchte, sondern aufrecht gehen konnte.
    Ich mochte vielleicht vierzig Meter zurückgelegt haben, als der Sand aufhörte und ich auf glattem Erdpechboden stand. Hier stieß ich mit dem Fuß an einen Gegenstand. Ich bückte mich nieder, um ihn zu untersuchen, und fühlte einen vollständig ausgezogenen, also unbekleideten Menschenkörper. Da fiel mir ein, daß ich ja noch ein Licht und auch Kibritat (Zündhölzer) in der Tasche hatte. Ich brannte es an und sah nun die elf Perser, denen man nicht ein einziges Kleidungsstück gelassen hatte, neben- und aufeinander vor mir liegen. Ich war an dergleichen Szenen gewöhnt, muß aber doch gestehen, daß es mich schauerte. Die Geschichte dieses Ortes trug wohl auch dazu bei. Da stand ich in einem verschütteten Kanal des babylonischen Turms vor nackten, blutigen Leichen, die mit ihren starren, gebrochenen Augen und klaffenden Wunden einen grauenhaften Anblick boten, zumal bei der mangelhaften Beleuchtung. Das Flackern des Lichtes täuschte mir gespensterhafte Bewegungen vor, und der mir unbekannte Teil des Kanals jenseits der Ermordeten schien von tausend schattenhaften, durcheinander huschenden oder tanzenden Wesen belebt zu sein. Dazu der schwere, drückende Modergeruch, welcher, je weiter ich vorgedrungen war, desto mehr Leichenduftartiges angenommen hatte. Dieser Gestank konnte nicht von den Persern stammen, die ja noch vor kurzem gelebt hatten. Ich mußte wissen, welche Ursachen er hatte, stieg also über die Toten hinweg, weil kein Platz war, an ihnen vorüberzukommen, und ging weiter.
    Da sah ich denn, daß ich mich in einer wahren Massengruft befand. Es lagen Schädel, Knochen und andere Leichenreste in Menge da; ich stieß bei jedem Schritt an sie, bis ich eine Stelle erreichte, wo die Decke eingestürzt war und ich nicht weiter konnte; ich kehrte also um. Die Ghasai hatten ihre Ermordeten hierher geschafft; sie kannten also diese grausige Totenkammer und waren demnach schon oft hier gewesen, um die Spuren und Beweise ihrer Taten diesem geheimen Ort anzuvertrauen. Kein Wunder, daß ich beschloß, Halefs Drohung solle in Erfüllung gehen!
    Als er mich nach einiger Zeit dem finsteren Loch entsteigen sah, schaute er mich erschrocken an und fragte:
    „Wie siehst du aus, Sihdi? Wäre dein Gesicht nicht so von der Sonne verbrannt, so würde ich sagen, du seist blaß wie eine Leiche. Hast du die Ermordeten gefunden?“
    „Ja.“
    „So hast du dich vor ihnen gefürchtet?“
    „Ich, fürchten? Nicht vor Lebenden, viel weniger vor Toten! Der entsetzliche Geruch, den es da unten gab, ist schuld, daß ich so angegriffen aussehe.“
    „Was hast du entdeckt? – Erzähle es!“
    „Jetzt nicht. Ich muß sofort zu den Beduinen, um dir eine Freude, eine große Freude zu machen.“
    „Welche?“
    „Frag nicht, sondern komm!“
    Wir stiegen wieder auf und ritten nach dem Lagerplatz. Der alte Ghasai schien von der Fruchtlosigkeit unserer Nachforschung vollständig überzeugt zu sein, denn noch war ich nicht aus dem Sattel gesprungen, so fragte er

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