21 - Stille Wasser
Emotionen ging, alle gleich. Er spielte in Gedanken ein paar Möglichkeiten durch und wagte einen Schuss ins Blaue.
»Dieses rothaarige Mädchen, Willow, kann ziemlich Besitz ergreifend sein, oder? Ich hatte beinahe das Gefühl, dass sie durch mein Erscheinen ihr Territorium bedroht sah.«
Die Körpersprache der Brünetten veränderte sich schlagartig und im gleichen Moment wusste er, dass sein Schuss ins Blaue mitten ins Schwarze getroffen hatte. Er lächelte sie väterlich an.
»Sie würden mir wirklich einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mir die Situation ein wenig genauer darlegen könnten. Nur damit ich, sollte ich mal wieder ein paar Informationen benötigen, keinen Fehler mache.« Er unterbrach sich und schaute auf die Uhr. »Es ist bereits nach zwölf – falls Sie noch nicht gegessen haben, dürfte ich Sie vielleicht zum Lunch einladen?«
Cordelia musterte den Mann mit prüfenden Blicken, natürlich so unauffällig wie möglich, und während die eine ihrer Gehirnhälften das von ihm ausgehende Gefahrenpotential abzuschätzen versuchte, war die andere bereits damit beschäftigt, sein Outfit in investierte Dollars umzurechnen.
Jackett, na ja. Hemd, Baumwolle, aber gute Qualität. Hosen, geht so, nichts Besonderes. Obwohl die Schuhe ganz schick sind. Auf jeden Fall italienisch.
»Tut mir Leid, wir dürfen das Schulgelände nicht verlassen.« Das war eine glatte Lüge, aber Cordelia hatte keineswegs die Absicht, mit einem Kerl, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, vom Campus zu spazieren, auch nicht, wenn seine Garderobe ganz akzeptabel war. Und schon gar nicht, wenn er die Augen eines Killers besaß, die so dunkel waren, als wären sie aus Bitterschokolade.
»Natürlich.« Er zuckte mit einer beinahe an Kaltschnäuzigkeit grenzenden Lässigkeit mit den Schultern, als sei es ihm ohnehin völlig egal. »Und ich hätte es wissen müssen. Wenn eine meiner Studentinnen eine solche Einladung angenommen hätte...«
»Sie sind Lehrer?«
Ihr Interesse ließ rapide nach. Es hatte nichts, aber auch rein gar nichts Cooles, sich mit einem Lehrer zu unterhalten, selbst wenn er ganz passabel aussah.
»Äh, nein. Zumindest nicht an der High-School. Ich unterrichte im universitären Bereich, normalerweise jedenfalls. Zur Zeit befinde ich mich in einem Forschungssemester, das ich eingeschoben habe, um an einem Projekt über Meerestiere zu arbeiten.«
Okay, Hochschulprofessor war schon besser.
Er machte eine Pause und sah sie nachdenklich an. »Sie sind hier aufgewachsen, hab ich Recht? Möglicherweise könnten Sie mir behilflich sein...« Er neigte den Kopf zur Seite und lächelte sie an. »Wie ich schon sagte, ich fürchte, dass ich hier eben ziemlich angeeckt bin. Ihre Hilfe wäre für mich von unschätzbarem Wert.«
Genau, dachte Cordelia. Und ich bin die Königin von Saba. Klare Sache, der will irgendwas. Sie gab sich einen Ruck. Aber er macht einen ganz vernünftigen Eindruck und scheint im Großen und Ganzen eher von der harmlosen Sorte zu sein... und falls er doch irgendwelche Dummheiten versucht, werde ich ihm einfach ein paar von diesen mörderischen Tritten verpassen, die ich mir letzten Sommer abgeschaut habe.
Sie lächelte ihn fröhlich an, gleichermaßen um die bösen Erinnerungen zu verscheuchen wie um zu signalisieren, dass sie einer Einladung nicht grundsätzlich abgeneigt war. Beide wandten sich um und kehrten der Bibliothek den Rücken zu, Cordelia allerdings mit solchem Elan, dass ihr Umhängebeutel mit Schwung gegen die Wand krachte; das Schnappschloss sprang auf und all ihre Habseligkeiten ergossen sich klappernd und scheppernd auf den Boden.
»Oh, verdammt! Wie ungeschickt von mir. Warten Sie einen Moment. Nein, lassen Sie nur. Ich mach das schon.« Sie ging in die Hocke, klaubte ihre Sachen wieder zusammen und stopfte sie in die Tasche. Als sich ihre Hand um die Puderdose schloss, öffnete sie den Deckel, um nachzusehen, ob der Spiegel heil geblieben war. Er hatte den Sturz nicht nur unbeschädigt überstanden, sondern reflektierte zudem, etwas oberhalb ihrer Schultern, ein aufrichtig besorgtes Gesicht. Zufrieden ließ sie das Döschen wieder zuschnappen. Es mochte zwar helllichter Tag sein, doch ein junges Mädchen sollte stets ein wachsames Auge auf ihren Begleiter haben. »Ich hätte jetzt etwas Zeit, wenn es Ihnen passt...«
»Jetzt wäre großartig, vielen Dank. Gibt es hier irgendwo einen Ort, wo wir uns hinsetzen und in Ruhe miteinander reden können?«
Auf dem Schulhof
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