215 - Die Macht des Sehers
für den Auftrieb sorgte – ein Prinzip, das auch die Rozieren verwendeten. Die Gasvorkommen lagen unter pyramidenförmigen Versorgungsstationen. Rund um die Plattform waren an armdicken Tauen neun gewaltige Stabilisierungsballons befestigt. Matt Drax blickte zu ihnen hinauf und sah, dass sie in Haltenetze gehüllt und durch sie zusätzlich mit der Wolkenstadtplattform verbunden waren.
Im Nordosten der Plattform führte Tala den Mann aus der Vergangenheit an zwei Wachen vorbei in eine Halle unterhalb der Plattform. Dort verharrten sie vor einer Dampfmaschine und einer gigantischen Winde, um die sich das Ende eines Taus wand, dick wie ein Oberschenkel.
»An vier Seiten der Wolkenstadt gibt es so eine Tauwinde«, erklärte Tala. »Sie wird durch die Dampfmaschine angetrieben. Die Taue führen zu vier Ankerstationen, deren Fundamente tief in den Boden reichen. An diesen Stationen ist die Wolkenstadt festgemacht. Sie werden selbstverständlich Tag und Nacht bewacht.«
Auf der Plattform über der Halle saß ein kastenförmiger Aufbau. »Das ist eine Aufzugskabine«, erklärte die kaiserliche Leibgardistin. »Auch sie treibt die Dampfmaschine an. Sie wird hauptsächlich von Händlern und Bauern benutzt, die den kaiserlichen Hof beliefern oder ihre Waren hier oben auf dem Markt anbieten.«
Der Mann aus der Vergangenheit war schwer beeindruckt, obwohl de Rozier ihm in seiner Erzählung schon einiges über die Wolkenstädte verraten hatte. Schier unglaublich, innerhalb von nicht einmal fünfzig Jahren gleich mehrere solcher Konstruktionen in die Tat umzusetzen! Selbst wenn ihm natürlich zahlreiche und willige Arbeitskräfte und kostenlose Materialien zur Verfügung gestanden hatten. Er konnte nicht anders, als diese Leistung als Geniestreich zu betrachten.
Innerlich zog er den Hut vor Pilatre de Rozier. Und dieser geniale Kopf sollte in dreiundzwanzig Tagen sterben? Welch ein Verlust!
»Damals, als der Kaiser zu uns kam, litten unsere Vorfahren unter einer Vielzahl von Heimsuchungen: tödlichen Insekten, Raubtieren, Überschwemmungen, Erdbeben«, sagte Tala.
»Nicht zu vergessen die Übergriffe anderer Stämme. Das war der Anlass für unseren Kaiser, Städte in den Wolken zu konstruieren. Hier oben sind wir von allen Gefahren, die am Erdboden lauern, geschützt.«
Sie nahmen einen mit Korkplatten belegten Pfad. Soldaten patrouillierten hier. Der Weg mündete in einen großen Platz.
Ein Lager aus Zelten, Unterständen und Hütten säumte ihn.
Kinder in einfachen Kleidern spielten hier, Frauen standen an Herdstellen, Gardisten saßen auf bunten Teppichen, palaverten oder spielten oder starrten Löcher in die Luft. Sobald sie Tala bemerkten, standen sie auf und grüßten mehr oder weniger förmlich.
»Wir sind hier im äußeren Ring der Wolkenstadt. Hier leben die unteren Soldatenränge, die Fabrikarbeiter und die Hofdienerschaft mit ihren Familien«, erklärte die Leibwächterin. Matt Drax nickte. Seine Gedanken kreisten schon wieder um den Kaiser und dessen nahes Ende. Was konnte er tun, um ihn von der Dringlichkeit der Angelegenheit zu überzeugen? War es vielleicht sinnvoll, jemanden aus seinem näheren Umfeld einzuweihen, der ihm dabei helfen konnte…?
»Die Stadt ist in drei Ringe eingeteilt«, erklärte Tala. »Der Palast mit seinen Nebengebäuden und Parkanlagen bildet das Zentrum des Innenrings.« Kurz darauf bogen sie in eine breite, mit halben Nussschalen gepflasterte Straße ein. »Diese Chaussee führt quer durch die Stadt.«
Dampfgetriebene Vehikel, mit rotem Samt ausgekleidet, schnauften über die Straße. Ein wenig erinnerten sie den Mann aus der Vergangenheit an venezianische Gondeln. Tala und er ließen den Außenring der Stadt hinter sich und passierten die Waffenschmiede von Wimereux und die Kaserne. Matt Drax betrachtete den pompösen Bau aus dunklem Holz und mit goldenen Stuckverzierungen. Überall wehten die unvermeidlichen bunten Fahnen. »Dahinter sehen Sie jetzt das Hauptwohngebiet der Wolkenstadt«, erklärte Tala.
Sie durchquerten den Zwischenring, und Tala wies auf ein paar Produktionsanlagen hin, auf eine Textilfabrik, eine Bierbrauerei, eine Getreidemühle und dergleichen. Schließlich erreichten sie den Marktplatz von Wimereux-à-l’Hauteur.
Dies war der Moment, in dem Matt Drax beschloss, seine Befürchtungen auszusprechen. Warum nicht Tala einweihen?
Als de Roziers Leibwächterin war sie ihm näher als die meisten anderen.
»Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen, Tala«,
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