215 - Die Macht des Sehers
entschuldigen mich jetzt bitte, Monsieur Drax. Die Regierungsgeschäfte rufen. Meine Leibwächterin wird Ihnen derweil die Stadt zeigen.«
Sprach’s, lächelte und verließ den Speisesaal an der Seite seines Sohnes Akfat und seines frischgebackenen Kriegsministers.
Tala tuschelte mit ihrem Onkel. Matt Drax wartete geduldig, bis sie Zeit für ihn hatte. Am liebsten hätte er sich in ein einsames Zimmer verkrochen. Vier Tage mit neun Menschen in einer engen Gondel, und jetzt all dieses Tamtam – der Mann aus der Vergangenheit sehnte sich nach ein bisschen Einsamkeit und Ruhe.
Endlich kam Tala zu ihm. »Ich darf Ihnen unsere Hauptstadt zeigen, Monsieur Drax«, sprach sie ihn auf Englisch an. »Der Kaiser hat mich ausgewählt, weil ich Ihre Sprache recht gut beherrsche.«
Matt lächelte freundlich. »Gern. Wenn ich aber um eins bitten dürfte: ›Matt‹ genügt. Den ›Monsieur Drax‹ habe ich jetzt oft genug gehört. Das passt nicht zu einem alten Yankee wie mir.«
Nun ließ auch Tala ein Lächeln sehen. »Yankee…?«
»Oh. Ein Slangausdruck. Er bezeichnete früher einen américain der Nordstaaten.«
Tala nickte. »Ich sehe, meine Kenntnisse Ihrer Sprache sind noch sehr unvollkommen.«
»Unsinn. Sie machen das prima! Sie sollten mal mein Französisch hören.« Er schüttelte sich, und sie lachte. Das Eis war gebrochen.
Gemeinsam verließen sie den Speisesaal und den kaiserlichen Palast. Sie gingen bis zum Landeplatz der Luftschiffe. Und Matt sah die Gelegenheit gekommen, eine Bitte anzubringen.
»Sie kennen Victorius, den Sohn des Kaisers?«, fragte er Tala.
Sie sah ihn fragend an. »Ja, ich kenne ihn. Aber Sie sollten nicht in Anwesenheit des Kaisers über ihn reden. Da gab es Differenzen in der Vergangenheit, die…« Sie brach ab. »Nun, er ist nicht sonderlich gut auf seinen Sohn zu sprechen. Obwohl er ihn doch liebt… glaube ich.«
Matt winkte ab. »Ich habe nicht vor, mich in Familienangelegenheiten einzumischen«, beteuerte er. Er wusste ja schon aus de Roziers Bericht von dem gespannten Verhältnis. »Es geht mir nur um die Frage: Kann es sein, dass Victorius’ Roziere innerhalb der letzten Monate hier gelandet ist – oder man Nachricht von ihm erhalten hat?«
Wieder ein fragender Ausdruck in Talas Gesicht.
»Ich habe Grund zu der Vermutung, dass meine Lebensgefährtin und mein Sohn bei ihm sind«, erklärte Matt.
»Ich hatte angenommen, sie wären hierhin unterwegs.«
»Wäre Victorius auf Wimereux, hätte Ord Bunaaga das mit Sicherheit erwähnt«, antwortete Tala. »Aber ich werde gern die Ohren offen halten.«
Matthew nickte. »Das wäre formidable.«
Tala lächelte. »De rien.« Sie gelangten auf ihrem Weg zu einem Aufzugsschacht, über den man vom Erdboden aus in die Wolkenstadt hinauffahren konnte.
»Wimereux-à-l’Hauteur ist eine Himmelsstadt neuer Bauart«, erklärte Tala. »Die ersten Städte bestanden aus miteinander verbundenen Parzellen.«
Matt wusste das aus eigener Erfahrung. Er berichtete von seinem Besuch auf Toulouse-à-l’Hauteur und der Begegnung mit Mistress Crella Dvill. Tala zeigte sich entsetzt von den Verhältnissen, die dort herrschten.
»Der Kaiser hat die alten Wolkenstädte lange Zeit sich selbst überlassen«, sagte sie. »Erst in letzter Zeit widmet er ihnen wieder mehr Aufmerksamkeit. Ich bin sicher, dass er sich auch um Toulouse-à-l’Hauteur kümmern wird.«
Das hoffte Matt sehr; schließlich hatte er der dortigen Widerstandsgruppe – allesamt Kinder – versprochen, de Rozier auf die Zustände aufmerksam zu machen. Bei nächster Gelegenheit würde er ihn darauf ansprechen.
Die Himmelsstädte neuer Bauart waren auf kreisrunde, mit einem Schwebekissen unterlegten Plattformen gebaut, auf der sich zahllose Häuser, Hütten, Zelte und künstliche Gärten erhoben, alles in Leichtbauweise errichtet. Matt Drax schätzte, dass die Plattform einen guten Kilometer durchmaß. Ein Meisterwerk der Baukunst und Statik. Ein wahrhaft visionäres Projekt, einem Flugpionier und Erfinder angemessen.
Eine Zeitlang schritt Tala mit Matthew den Stadtrand ab und zeigte ihm die Navigationspropeller, die dort in regelmäßigen Abständen unter der äußeren Plattformkante hingen. Wie alle Maschinen in dieser seltsamen Zivilisation wurden sie mit Dampfmaschinen betrieben.
Im Zentrum des Schwebekissens an der Unterseite gab es einen ausfahrbaren Schlauch, über den vulkanisches Gas – unter anderem Methan – aus Erdkavernen gepumpt wurde und zusammen mit heißer Luft
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