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215 - Die Macht des Sehers

215 - Die Macht des Sehers

Titel: 215 - Die Macht des Sehers
Autoren: Jo Zybell
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begann er, während sie an hölzernen Warenständen, kleinen Buden, Stehtischen und Fässern vorbeigingen. »Ihr Chef, also der Kaiser… er hat nur noch dreiundzwanzig Tage zu leben. Ich denke, das müsste Sie interessieren, denn Sie sind ja für seine Sicherheit verantwortlich.«
    Zwischen einer Rösterei und einer Bäckerei blieb die Leibgardistin abrupt stehen und musterte den Mann aus der Vergangenheit mit ungläubiger Miene. »Was sagen Sie da, Monsieur Drax?«
    »Sie haben völlig richtig verstanden, Tala.« Matt Drax atmete tief durch. Der Geruch von gerösteten Nüssen und gebackenem Maisbrot stieg ihm in die Nase. »Sie haben doch meine Geschichte gehört, die ich auf dem Weg von der Großen Grube nach Orleans-à-l’Hauteur erzählt habe. Von meinem Sturz durch diesen Zeitstrahl.«
    Die junge Frau nickte.
    »Das ist jetzt acht Jahre her«, fuhr Matthew fort. »Acht Jahre, in denen mein Haar und meine Nägel extrem langsam wuchsen, ich denen ich so gut wie nicht gealtert bin!«
    Tala blinzelte verwirrt. »Ich verstehe nicht, was –«
    Matt kam auf den Punkt. »Das Gleiche widerfuhr dem Kaiser, als er aus seiner Welt hierher in diese Zeit kam. In genau dreiundzwanzig Tagen jährt sich dieser Tag für ihn zum fünfzigsten Mal. Danach endet die Wirkung des Strahls, die das Altern aufhält, und er wird innerhalb weniger Stunden vergreisen und sterben.«
    »Er ist durch einen Zeitstrahl gegangen?« Sie flüsterte nur noch, fasste ihn am Arm und führte ihn zu einem Torbogen aus Bambusstangen. »Sind Sie sicher?«
    »Haben Sie eine andere Erklärung dafür, warum er seit fast fünfzig Jahren aussieht wie ein Dreißigjähriger?« Eindringlich schilderte er ihr, was er wusste. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie man ihn retten könnte«, schloss Matt. »Ich weiß aber genau, dass er erst einmal ein Bewusstsein für die Gefahr entwickeln muss, in der er schwebt, bevor er überhaupt Hilfe sucht und annimmt. Und das kostet Zeit, die wir nicht haben!«
    Tala war wie vor den Kopf gestoßen. Im Schnelldurchgang führte sie ihn durch den inneren Ring und an einem großen Gebäude mit prächtigen Eingangsportalen und spitzen Türmen vorbei zu einem Park. Auf einem der Gebäude erkannte Matt Drax eine gewaltige Kuppel. Sogar ein Observatorium hatten sie hier oben! Matt wusste bereits, dass weit über tausend Menschen hier oben in den Wolken lebten.
    Schweigend durchquerten sie den Park, in dem fast alles künstlich hergestellt war – das Gewicht von Muttererde und echten Bäumen hätte die Wolkenstadt zu sehr belastet –, und näherten sich dem kaiserlichen Palast. Vögel zwitscherten, Springbrunnen plätscherten, spielende Kinder lachten, und unter einem Pavillon aus Balsaholz sang jemand zu den Klängen einer Harfe.
    Diesmal hatte man Matt ein Zimmer im Palast zugedacht.
    Tala führte ihn dorthin, schloss es auf und reichte ihm den Schlüssel.
    »Warum antworten Sie mir nicht?« Der Mann aus der Vergangenheit stellte die schwarze Schönheit zur Rede.
    »Ich bin noch wie betäubt von dem, was Sie mir erzählt haben«, sagte Tala. »Lassen Sie mich ein paar Stunden darüber nachdenken. Danach werde ich den Kaiser darauf ansprechen.«
    Damit drehte sich um und eilte davon.
    ***
    Madagaskar, Mitte März 2524
    »Das Leben liebt die Tapferen, die Kämpfer, die Helden. Es liebt die, die aushalten am Abgrund, die beharren in Gefahr, die überwinden ihre Angst. Und ich? Bin ich etwa tapfer? Bin ich etwa ein Kämpfer, ein Held? Nein, nein, nein…«
    Schon zum dritten Mal an diesem Abend stand Keetje an der Luke zu Yanns Kajüte und lauschte. Er redete und redete. Sie bückte sich und spähte durch das Schlüsselloch: Er lag in seinen Fellen, hielt sich den Kopf und drehte ihn hin und her.
    Das verfluchte Ding in seinem Schädel machte ihn fertig. Wie hatte Yessus es genannt? »Tumor«, richtig. Verfluchter Tumor!
    »… einen würdigeren Gegner such dir, gnadenloses Leben, einen mutigeren Kämpfer, einen strahlenderen Held. Nicht mich, denn ich kann nicht mehr kämpfen, kann nur noch wimmern. Ich gebe auf, ich gebe auf, ich gebe auf…«
    Wieder äugte Keetje durchs Schlüsselloch: Yann hatte sich sein Unterhemd zerrissen und winkte mit einem weißen Fetzen wie mit einer Fahne. »Man reiche mir die Waffen des Unterlegenen«, hörte sie ihn krächzen. »Man reiche mir Seil, Klinge und Gift…«
    Es schnürte dem Mädchen das Herz zusammen, ihren Ersatzvater so elend leiden zu sehen und so besinnungslos daherreden zu hören. Keetje
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