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215 - Die Macht des Sehers

215 - Die Macht des Sehers

Titel: 215 - Die Macht des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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sie konkret litten.
    Diese Fähigkeit – nicht einmal Keetje verstand sie wirklich – hatte sich schnell herumgesprochen, wie gesagt. Inzwischen klopften täglich sechs bis neun Kranke an die Tür des Hausbootes. Yann untersuchte die energetischen Körperströme der Leute und spürte so die Krankheitsherde auf. Wenn die
    »Kunden« – so nannte Keetje die Hilfesuchenden – nicht mit Silber und Gold zahlen konnten, dann entlohnten sie Yann mit Speisen, Fellen, Werkzeugen, Früchten und ähnlichem.
    So ließ es sich ganz vernünftig leben. Das sechzehnjährige Mädchen mit den blonden Zöpfen und den hellblauen Augen jedenfalls war nicht mehr auf Betteln und Stehlen angewiesen wie in den Monaten, bevor sie Yann begegnet war. Seit fünf Tagen allerdings empfing Yann keine Kunden mehr. Die Kopfschmerzen, wie gesagt. Und draußen wuchs die Zahl der Wartenden.
    Vor der Kajütentür blieb Keetje stehen und lauschte. »Was sind wir denn, was?«, hörte sie Yann im Raum dahinter murmeln. »Ist uns denn gegeben, auf irgendeinem Grunde zu rasten? Wir schwinden, wir fallen, wir leidende Wesen, wir stürzen…«
    Sie drückte die Tür auf und trat ein. »… einäugig von einer Stunde zur anderen…« Eine Kerze brannte auf einem Tisch.
    Yann hockte auf zerwühlten Decken und wiegte den Oberkörper hin und her. »… wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Tag für Tag ins Ungewisse hinab…« Er unterbrach sich und riss sein rechtes Auge auf. »… was gibt’s denn schon wieder?«
    »Da ist einer, der stirbt, wenn du ihn dir nicht gleich vornimmst.«
    »Ich sterbe auch, wenn Yessus nicht bald kommt.« Yann winkte ab. »Hast du ihn schon gesichtet?«
    »Ja, er ist nicht mehr weit.« Keetje ging zu ihm, kniete vor ihm nieder und strich ihm zärtlich über das schmerzverzerrte Gesicht. Im Schneeweiß seines linken, toten Auges spiegelte sich das Kerzenlicht. Mehr Licht vertrug Yann seit Tagen nicht mehr, es bereitete ihm unerträgliche Schmerzen.
    »Diesen einen kannst du noch durchchecken, bis der Heiler ankommt«, sagte sie.
    »Nein, das schaffe ich nicht! Nein, nein…«
    »Doch, doch – es ist wichtig!« Sie reichte ihm ein Becher mit Wasser. »Und dass du mir fleißig Wasser trinkst, hast du gehört?«
    Er trank, und sie stand auf und holte den abgemagerten Kranken mit der gelben Haut. »Stell keine überflüssigen Fragen, rede vor allem nicht zu laut und gehe auf Zehenspitzen«, befahl sie dem Mann, bevor sie mit ihm ins Halbdunkle der geräumigen Kajüte trat.
    Yann schaukelte schon wieder hin und her und redete unbegreifliches Zeug. »Ein Gespinst ist der Mensch, geknüpft zwischen Tier und dem Gotte, ein Gespinst über Abgrund und Nichts…« Das Ding in seinem Kopf war es, das ihm all die Sachen auf die Zunge schickte, damit er sie aussprach. Das Ding, das sein Auge tot und weiß gemacht hatte, das Ding, das ihn mit Kopfschmerzen quälte. »Gelobt, wer es wagt und über den Abgrund balanciert, gelobt, wer sich in Gefahr begibt wieder und wieder…«
    »Meister?«, sprach Keetje ihn mit gesenkter Stimme an.
    »Meister, hier ist Kundschaft.«
    Yann Haggard verstummte, öffnete sein rechtes Auge und hörte auf zu schaukeln wie ein Geisteskranker. Er richtete seinen Blick auf den Gelbhäutigen. Der fing an zu zittern und die Hände zu ringen. »Stehe still«, forderte der Meister ihn mit tiefer Stimme auf.
    Er betrachtete den Körper des Bedauernswerten. Wenn Keetje alles richtig verstanden hatte, sah er in diesem Augenblick blau leuchtende Energieströme und Energiestauungen im Inneren des Todkranken. Keetje wusste nicht einmal, dass so etwas wie blaue Energie durch einen menschlichen Körper floss, geschweige denn, dass man dergleichen sehen konnte. Doch irgendetwas musste ja dran sein an der Sache, denn die Kranken rannten Yann die Hausboottür ein.
    »Die Galle«, sagte Yann nach ein paar Atemzügen. »Ein Stein verstopft deine Gallenblase. Warte draußen auf den Heiler, er wollte heute sowieso vorbeikommen.«
    Der Kranke stammelte Worte des Dankes und ging rückwärts zur Kajütentür. Dabei verbeugte er sich ständig, und wenn Keetje ihn nicht festgehalten hätte, wäre er ganz bestimmt gestolpert und gestürzt.
    Draußen nahm sie ihm das Silbergeld ab und führte ihn aufs Außendeck. »Du hast gehört, was der Meister gesagt hat – der Heiler kommt heute noch.«
    Yann Haggard arbeitete eng mit dem Heiler zusammen.
    Nachdem er die Krankheiten diagnostiziert hatte, konnte der Heiler sie gezielt behandeln. Der

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