2156 - Stimme des Propheten
plötzlich auffällig veränderte. Sie wurde nervös, geradezu hektisch, zappelte am Tisch herum und konnte kaum mehr dem Unterricht folgen. Kaum hatte sie ein Spiel begonnen, wandte sie sich schon einem anderen zu. Auf Fragen antwortete sie zerstreut. Sie konnte sich sogar kaum mehr aufs Essen konzentrieren. Als die Eltern mit ihr zu den Neuen Realisten ins nächstgelegene Gesundheitszentrum gingen, stellten die beiden fest, dass sie nicht die Einzigen mit diesem Problem waren.
Obwohl die Neuen Realisten täglich mit vielen solcher Fälle konfrontiert wurden, standen sie den Eltern hilflos gegenüber. „Es ist ein Rätsel", sagte die verantwortliche Frau. „Organisch fehlt den Kindern nichts. Es liegt keine virulente oder bakterielle Infektion vor, auch kein Befall schädlicher Organismen wie Würmer oder so. Es gibt keine Anzeichen einer genetischen Veränderung oder Degeneration. Sie alle sind gesund. Wir können nichts tun, als den Kindern Fragen zu stellen und damit die Ursache für diese Verhaltensstörungen zu finden." Rahini Caj wurde im Beisein ihrer Eltern einer hypnotischen Befragung unterzogen, und sie gab bereitwillig Auskunft, nachdem sie einigermaßen ruhig gestellt war. „Weißt du, was mit dir geschieht, Caj?", lautete die erste Frage. „Es ist eine Veränderung, das merke ich", antwortete das Kind. „Ich will nicht so sein, aber ich kann nicht anders."
„Macht dir das Angst?"
„Ja, sehr."
„Aber jetzt bist du gerade ruhig. Fühlst du dich wohl?"
„Nein."
„Nein? Was empfindest du?"
„Angst. Ich habe immer Angst. Am schlimmsten ist es nachts, wenn ich träume. Es ist immer derselbe Traum, und er verfolgt mich auch tagsüber, sobald ich die Augen schließe. Es ist ein schrecklicher Traum."
„Warum hast du das deinen Eltern nicht schon früher gesagt?"
„Ich konnte nicht. Ich wurde immer ganz nervös und vergaß, was ich sagen wollte.
Dann sehe ich die Bilder und will es sagen, aber es geht nicht. Ich ... ich ..."
„Schon gut, Caj. Es ist alles in Ordnung. Die Hypnose dauert noch an, du bist warm und behaglich, entspannt und ruhig. Hast du jetzt genauso viel Angst wie sonst?"
„Nein ... nicht ganz."
„Willst du mir deinen Traum erzählen?"
Rahini Cajs Nas-Organ sank in sich zusammen und rollte sich fast ein. Ihre Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern, und die beiden abgespreizten Daumen der rechten Hand zuckten. Dann brach es aus ihr hervor: „Ich sehe eine Stadt ... eine Stadt 'aus ,blauen und silbernen Türmen. Ich habe noch nie so etwas gesehen. Sie ist groß .., ungeheuer groß. Sie reicht von Horizont zu Horizont. Ich glaube, sie ist so groß wie die Welt. Diese Stadt erhebt sich fast bis zum Himmel, und ich bin winzig klein. Ich kann kaum atmen, und ich kann den Himmel nicht mehr sehen, denn er ist ganz schwarz, und die Stadt leuchtet in einem grellen Licht, das in meine Augen sticht. Ich gehe in die Stadt, und ich bin ganz allein. Ich suche nach den anderen. Und dann ... dann sehe ich ..."
Ihre Stimme zitterte. Trotz der Trance richtete sie sich halb auf. „Du brauchst keine Angst zu haben, Caj, es ist nur ein Traum. Wir sind alle hier. Du bist nicht allein. Ich kann dich jederzeit aufwecken. Aber du willst mir erzählen, was du siehst, nicht wahr?"
„Knochen", flüsterte das Kind. „Wie bitte?", fragte die Neue Realistin. „Ich sehe Knochen", wiederholte Rahini Caj. „Knochen, die unter den gläsernen Fundamenten liegen. Es sind Herreach. Millionen über Millionen Skelette liegen hier. Sie sind ausgelöscht worden, als die Stadt entstand. Sie wurden zerquetscht, ausgesaugt, zermalmt ... alle sind tot. Nur ich bin übrig... und dann ... dann ..."
Unvermittelt begann das Herreach-Mädchen zu schreien. Alle Versuche, Rahini aus der Hypnose zu holen, fruchteten nichts; ebenso wenig konnte sie beruhigt werden. Sie schrie mehrere Minuten lang, bis sie abrupt verstummte. Rahini Caj sank in sich zusammen und fiel ins Koma. Am nächsten Tag hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie war nicht das einzige Kind, das auf einem großen Feld auf dem Land begraben wurde. Hunderte Herreach lagen bereits auf diesem Friedhof, und es wurden täglich mehr, wie man an den ständig wachsenden, frisch aufgeworfenen Hügeln erkennen konnte.
Die Herreach kannten keine Bestattungsrituale und keinen Totenglauben, und sie empfanden kaum Trauer. Wie den meisten Dingen standen sie dem Tod gleichmütig gegenüber: Er beendete schlicht das Leben, und mehr gab es darüber
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