216 - Jenseits von Raum und Zeit
Krächzen über. »Danach will ich sagen: ›Willkommen! Willkommen, o Stille der Schattenwelt‹!« Er flüsterte nur noch. »›Willkommen, verfluchter Tod…‹« Yanns Stimme brach, sein Kinn sank ihm auf die Brust, er schwieg.
Matt Drax stand vom Kartentisch auf und ging zu ihm ans Fenster. »Alles klar bei dir, Yann?« Ohne aufzublicken, stieß der Seher einen Krächzer aus, der nach Zustimmung klang. »Wenn du den Zeitstrahl wirklich entdecken willst, solltest du zum Fenster hinaus schauen, Yann.« Matt beugte sich an das Ohr des Sehers und senkte die Stimme. »Denk einfach an die vielen Goldstücke und an den Job bei Hof. Bis auf den Vorschuss geht dir das alles durch die Lappen, falls du den Strahl übersiehst.«
Es war ein wirklich großzügiges Honorar, das der Kaiser mit Haggard vereinbart hatte: fünf Goldstücke Anzahlung, für jeden Reisetag ein weiteres, und falls de Rozier überlebte – falls Yann Haggard also den Strahl entdeckte und sie ihn passierten – eine Stellung als Seher am kaiserlichen Hof; und das auf Lebenszeit. Yann Haggard war ein gemachter Mann, fast jedenfalls.
»Was interessieren mich Gold und ein Vertrag bei Hof, wenn ich sterben muss, he?« Der Seher blickte auf und schnitt eine missmutige Miene. »Ich interessiere mich für Schmerzmittel, und für sonst gar nichts!«
Matt zog die Brauen hoch. Doch er wagte nicht auszusprechen, was ihm schon seit Beginn der Reise durch den Kopf ging: Wenn sie durch den Zeitstrahl flogen, würde auch Yann weitere fünfzig Jahre »geschenkt« bekommen. Der Tumor würde nicht weiter wachsen – aber an den momentanen Schmerzen würde das wohl nichts ändern. Yann Haggard würde bis an sein Lebensende Schmerzmittel einnehmen müssen, und welche Folgen das hatte, konnte Matt nicht ermessen.
Also schwieg er lieber und blickte zu de Rozier. Der hockte in seinen Decken und rieb sich grübelnd das Kinn. Seit Tagen waren die Männer nicht mehr dazu gekommen, sich zu rasieren, aber auf ihren Wangen zeigte sich kaum Bartwuchs. Eine weitere Folge der Alterslosigkeit: Haar und Horn wuchsen viel langsamer als normal; ein Drei-Tage-Bart zeigte sich bei Matt erst nach vielen Wochen.
»Es täte mir wirklich sehr Leid um dich, mon ami«, sagte der Kaiser. »Doch bedenke – wenn wir den Strahl nicht finden, heißt es für mich ebenfalls: finit. Und das schon in drei Tagen.«
Er stand auf, rückte sich seine Perücke zurecht und kam ebenfalls ans Fenster. Dort lehnte er mit dem Rücken gegen die Wand zwischen Luke und Fenster, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den bleichen Seher. »Und noch eins bedenke, Maitre Yann – überlebe ich die Reise und wir kehren nach Wimereux-à-l’Hauteur zurück, steht dir meine Leibärztin zur Verfügung. Madame Aksela ist eine erfahrene Ärztin, certainement wird sie dir helfen können.«
»Mir kann niemand mehr helfen«, sagte Yann halb trotzig, halb traurig. »Doch macht euch nicht in die Hemden – wenn es diesen verdammten Zeitstrahl in dieser verdammten Gegend wirklich gibt, dann werde ich ihn verdammt noch mal auch finden. Darauf könnt ihr Gift nehmen. Und jetzt lasst mich in Ruhe, verdammt!«
Matt Drax und Pilatre de Rozier gingen zum Kartentisch und setzten sich auf die beiden dort am Boden festgeschraubten Sessel. »Oder wartet«, sagte Yann und drehte sich halb nach ihnen um. »Gebt mir erst noch die letzte Dosis Schmerzmittel.«
»Halte noch ein wenig durch«, beschied im Matt. Haggard zischte verdrossen und stieß einen Fluch aus, gab sich aber einsichtig; vorläufig.
»Unter uns, Maddrax – mir ist gar nicht wohl, wenn ich an diesen Strahl denke.« De Rozier beugte sich zu Matt. Seine Miene wirkte undurchdringlich und beherrscht, doch in seinen Augen glomm die Furcht. »Sagtest du nicht, er wäre wie ein Tunnel durch Raum und Zeit, der vom Roten Planeten hierher reicht? Was, wenn wir durch ihn hindurch auf den Mars stürzen? Oder wenn wir gar darin verloren gehen?«
»Das wird nicht geschehen«, versicherte der Mann aus dem 21. Jahrhundert. »Es ist nicht leicht, das zu verstehen und auch nur zu akzeptieren, ich weiß.« Matt legte ihm die Rechte auf den Arm und schlug einen beruhigenden Tonfall an. »Aber mach dir keine Sorgen – man kann den Strahl lediglich in eine Richtung begehen. Er führt vom Mars auf die Erde und von der Ortszeit auf dem Mars etwa sechs irdische Wochen in die Zukunft. Vertrau mir, ich weiß, wovon ich spreche. In einem gewissen Sinne war ich an seiner Entwicklung
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