Sommerliebe
Dort, wo der stille Weg von Heringsdorf nach Bansin führt, liegen rechts und links vom Pfad die flachen, spärlich bewachsenen Dünen der Ostsee. Vereinzelte Häuser schmiegen sich in die Sandkuhlen, ab und zu weht ein Wimpel aus einer versteckten Sandburg. Die Möwen kreischen über den Hügeln oder schießen in der steifen Meeresbrise landeinwärts und kommen, den Kampf mit dem Gegenwind aufnehmend, viel, viel langsamer zurück. Kleinvögel verbergen sich in den harten, wetterfesten Büschen, während sich in dem fahlgrünen, fast strohigen Gras auf dem Boden fast kein Leben bemerkbar macht. Stille liegt über dieser verlassenen Gegend – freilich nur im Winter. Den ganzen Sommer über ist der Strand erfüllt vom Lärm der Urlauber, die baden oder, wenn sich die Sonne nicht sehen läßt, den Umsatz in den Lokalen hochtreiben.
Das ist und war dort schon immer so. Leben und Treiben an der See …
Die Geschichte, die hier erzählt wird, hat sich vor einem halben Menschenalter zugetragen. Sie könnte sich heute fast genauso wiederholen, allerdings nur bis zum Eintritt eines Ereignisses, das sich nicht nur den Figuren des Romans, sondern Millionen und aber Millionen von Menschen als Abgrund auftat. Dieses Ereignis war zu verzeichnen am 1. September 1939, dem Tag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges.
Unmittelbar zuvor, an einem der heißen Augusttage, saßen zwischen zwei Heringsdorfer Dünen zwei junge Männer in Badehosen im Sand, ließen die harten Gräser durch ihre Finger gleiten und wußten nichts Rechtes mit sich anzufangen. Der eine, ein großer, sehr großer blonder Mann mit den Proportionen eines Zehnkämpfers, riß schließlich einen Grashalm aus und kaute darauf herum. Das hätte er aber nicht tun sollen, es vertrug sich nicht mit seinem Beruf, denn er war Arzt. Ihren Patienten sagen die Ärzte, daß solche Unsitten gefährlich seien. Man könnte sich ganz dumme Sachen dabei holen. Aber das ist wohl wie mit dem Rauchen. Ärzte, die am schlimmsten qualmen, malen die Schrecken des Lungenkrebses am düstersten an die Wand.
Der andere der beiden jungen Männer, nicht gar so groß und muskelbepackt, schwarzhaarig, fing an, aus dem gelben Sand kleine Häufchen zusammenzuscharren und sie immer wieder mit unmutigen Handbewegungen fortzufegen. Seinem Freund, dem Arzt, schenkte er nur strafende Blicke. Beruflich bewegte er sich auf arg dünnem Eis. Er hatte sich nämlich schon nach dem Abitur dafür entschieden, seinen Lebensunterhalt der Schriftstellerei abzugewinnen, und in dem knappen Jahrzehnt seither war es ihm noch nicht gelungen, den großen Durchbruch zu schaffen. Er buk also gewissermaßen noch kleine Brötchen, die aber immerhin schon dazu ausreichten, auf eigenen Beinen zu stehen. Der Vater, ein wohlhabender Kaufmann in Köln, mußte finanziell nur noch ab und zu in Anspruch genommen werden. Ferienreisen nach Heringsdorf vertrug der Etat des jungen Dichters eigentlich noch nicht. Trotzdem hatte Heinz Bartel, so hieß er, spontan zugestimmt, als Rolf Wendrow, der befreundete Arzt, vorgeschlagen hatte, ›gemeinsam die Nase mal in den Ostseewind zu stecken‹. Notfalls konnte er, Heinz, ja bei seinem Alten Herrn telegraphisch immer noch eine Anleihe während des Urlaubs aufnehmen, wenn sich dieser als zu teuer erweisen sollte. Das gleiche galt auch für Rolf, der ein junger, alles andere als fürstlich bezahlter Assistenzarzt an einer Kölner Klinik war. Damals hielt sich die Honorierung der Mediziner noch in Grenzen.
Heinz Bartel haute mit der flachen Hand in den Sand.
»Blödsinn!« stieß er dabei hervor.
»Was?« fragte Rolf.
»Blödsinn«, wiederholte Heinz.
»Was soll Blödsinn sein?«
»Deine Idee, mal von den Weibern die Finger zu lassen.«
»Wieso meine Idee? Warst nicht du derjenige, der damit ankam?«
»Ich?!«
»Wer lag mir in Köln damit in den Ohren, daß er seine Erna satthabe und nicht wisse, wie er sich ihrer entledigen solle?«
»Und wer erzählte mir haargenau das gleiche von seiner Charlotte?«
»Aber angefangen hast du!«
»Und nicht mehr aufgehört du!«
»Jedenfalls waren wir uns dann einig, vor den beiden Reißaus zu nehmen und in Urlaub hierherzufahren.«
»Ja, das war mein Vorschlag«, nickte Rolf.
»Wobei wir uns einig waren, unser Leben am Meer einmal in ganz anderen Bahnen verlaufen zu lassen als am Rhein.«
»Richtig.«
»Aber was höre ich jetzt von dir?«
»Nur das, was dir auch ins Gesicht geschrieben steht.«
»Mir? Was denn?«
»Deine Gier nach
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