21st Century Thrill - Mind Games
Kanalwasser. Das Lid ihres rechten Auges zuckte. Regen und Sturm hatten einen Haufen Unrat angespült. Plastiksäcke, Aludosen, abgerissene Zweige. Ein totes Kaninchen trieb am Ufer vorbei.
„Ellen war hier, während du weg warst“, sagte Aki unvermittelt. „Sie kam kurz nachdem du ins Landschulheim aufgebrochen bist.“
„Ellen Lennart, die Kleine mit dem Wuschelkopf? Mit der du früher immer rumgehangen bist?“
„Genau. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.“
„Und?“ Kris hielt Aki die Bäckertüte hin. Sie schüttelte den Kopf.
„Sie hat mich besucht. Hat ziemlich Stress. Burn-out.“
Noch so ein Schlagwort. Ungnädig stellte Kris fest, dass sein Lehrer, der seinen Schülern 14 Tage mit seiner Schwarzseherei auf die Nerven gegangen war, vielleicht doch recht hatte. Krankheiten waren das Thema, jeder hatte seinen Senf dazu beizutragen. Das Burnout-Syndrom wird der Gesellschaft einen Schaden in Höhe von vielen Millionen Euro bescheren, hörte Kris Herrn Barnfelder sagen. Wir werden uns daran gewöhnen, dass wir unseren Arbeitsalltag eines Tages nur noch zu bewältigen imstande sind, indem wir Psychopharmaka einnehmen, die unsere Leistungsfähigkeit steigern und dafür sorgen, dass wir den Ansprüchen des Arbeitsmarktes gerecht werden. Kris griff in die Tüte und nahm ein Croissant. Bevor ihm der Appetit verging.
„Was macht Ellen so?“
„Sie arbeitet für ein Forschungslabor. Hat Chemie studiert.“
„Aha.“ Kris biss in sein Croissant.
„Sie war drei Tage hier. Brauchte eine Auszeit.“
Das erklärte, warum Aki eine Woche lang nicht am PC gearbeitet hatte. Sie hatte sich mit Ellen einen schönen Lenz gemacht.
„Was hast du heute eigentlich vor?“ Kris stellte fest, dass er die Frage in einem bemüht munteren Tonfall gestellt hatte. Dass Aki einen Sonntag mit Nichtstun verbummelte, kam schlicht nicht vor.
Aki zuckte die Schultern.
„Mensch, Aki, was ist los mit dir?“
„Was soll los sein? Ich bin müde, das ist alles.“
„Ich fahre mit dem Rad nach Gosen. Wir brauchen was zu essen.“ Kris stand auf und klopfte sich die Brösel vom T-Shirt. Obwohl Sonntag war, konnte er die wichtigsten Dinge beim Bauern im Ort bekommen.
„Okay.“ Sie machte keine Anstalten, mitzukommen.
Im Küchenschrank stand die Teedose mit dem Haushaltsgeld. Kris nahm 50 Euro heraus.
Kapitel 5
Der Sonntag ging gemächlich in die neue Woche über. Die Nacht war mild und duftete nach Sommer. Kris lag auf dem Deck und twitterte mit Val. Nach einem einzigen Tag Trennung fehlte sie ihm schon. So was war ihm bisher noch nie passiert, mit keinem Mädchen. Also durchstreifte er das Netz auf Vals Spuren. Sie war in allen möglichen Foren unterwegs und mit Hinz und Kunz verbunden. Während er darauf wartete, dass die Datenflut in seinem Rechner ankam, blickte er über den dunklen Kanal. Akis Stimmung hatte sich den ganzen Sonntag nicht verändert. Kris hatte ein ungutes Gefühl. Er hatte alles allein erledigen müssen. Hatte Staubmäuse entfernt und den Kühlschrank ausgewischt. Sogar in Akis winzigem Schlafzimmerchen hatte er gekehrt. Alles war versifft. Kris war erst 17. Falls jemand vom Jugendamt auftauchte, musste alles picobello sein.
Kris schickte Val ein letztes Smiley. Die Netzverbindung hier draußen war ziemlich langsam. Er hatte einfach keine Lust auf Chats, wenn er nach jedem Klick minutenlang warten musste, bis sich etwas tat.
Über dem Kajütdach flatterten die Fledermäuse. Kris genoss die Stille und den milden Wind, der vom Seddinsee herüberwehte. Er griff nach der Flasche neben sich. Akis seltsamer Zustand hatte auch ein paar Vorteile: Sie hatte nicht einmal gemotzt, als Kris vier Flaschen Cola vom Einkaufen mitbrachte.
Der Kanal floss träge dahin. Der Müll, der sich nach dem Regensturm rund um die Susanna aufgetürmt hatte, war weggeschwemmt. Ein frischer, feuchter Geruch lag über dem Land. Es war völlig windstill. Und in die Stille hinein hörte Kris wieder das Surren.
„Verdammt!“ Er sprang auf, legte sein Notebook weg und suchte in der Seekiste nach der Taschenlampe. Aki hatte sie auf einem Flohmarkt gekauft. Ein riesiges Teil mit Halogenstrahler, mit dem man die Finsternis der Hölle hätte ausleuchten können. Der Lichtstrahl strich über die Kajütwand. Aus den Augenwinkeln sah Kris, wie die Fledermäuse abdrehten. Er kletterte die Leiter hinauf. Auf dem Kajütdach klebte Vogeldreck. Der Schlot, durch den der Dunst abzog, wackelte in seiner Verankerung. Kris kauerte sich
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