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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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zu sehen, welches mit Mühe und Not den Hals erreichte. Dann kam ein unverhältnismäßig kleiner Kopf mit einem Gesicht, welches mir ein Lächeln abnötigte. Dieser Mann war ganz gewiß nicht unter vierzig Jahre alt, hatte aber so junge, kindlich weiche Züge, daß der Kontrast zwischen Gesicht und Gestalt allerdings zum Staunen nötigte. Dazu kam, daß er eine kurdische Ledermütze trug, deren Streifen ihm hinten bis in das Genick und vorn über die Nase herabhingen. Man denke sich einen aus Leder geschnittenen Stern, dessen Mitte auf dem Scheitel liegt, während die Strahlen wie die Beine eines präparierten, monströsen Spinnentieres nach allen Seiten herunterflattem! Seine Arme schienen noch länger zu sein als seine Beine, von denen das eine kürzer als das andere war; er hinkte. Er trug einen leeren Korb in der Hand und ging grad nach der Gegend hin, wo die beiden Pflaumenbäume standen, der eine noch als Zeuge meiner Ehrlichkeit, der andere aber als Beweis der Missetat, die ich begangen hatte.
    Das war die Person, welcher die Anweisung zur Kerbelsuppe gegolten hatte. Wer aber hatte sie gegeben?
    Ich sah eine jetzt geöffnete Tür, welche ich vorher nicht beachtet hatte. Da stand ein weibliches Wesen, so strahlend weiß wie eine abendländische Festjungfrau gekleidet. Festjungfräulich waren auch die langen Zöpfe, in welche sie ihr herabhängendes Haar geflochten hatte. Festlich auch die beiden Rosen, die rechts und links auf die Ohren niederschauten. Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. Jede Wange bildete ein blühend rotes, nach ganz besonderem Ansehen trachtendes Halbkügelein. Das Kinn tat sich weiter unten fast noch mehr hervor; es schien auf sein mehr als neckisches Grübchen ganz besonders stolz zu sein. Das Näschen begann erst da, wo andere Nasen fast schon zu Ende sind, und schaute zwischen den beiden Wangen so frohsinnig heraus und in die Welt hinein, als ob seinesgleichen nirgends mehr zu finden sei. Auch die glatte, faltenlose Stirn trat heiter vor. Und die Äuglein unter ihr! Ja, diese Äuglein! Wer kann überhaupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! Und wie das Gewand, so war auch dies Gesicht ein Abglanz allergrößter Sauberkeit. Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht – ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. Wenn diese personifizierte Reinlichkeit etwa die Gebieterin der Küche war, so konnte man von ihr alles, ganz gleich, ob mit oder ohne Kerbel, mit Vergnügen essen!
    „Maschallah – Wunder Gottes!“ hörte ich jetzt von seitwärts her einen Ruf.
    Ich wandte mich zurück und machte nach dorthin eine Lücke ins Gezweig. Da stand der Lahme vor den Pflaumen, so lang, wie er war, vollständig starr und steif vor Schreck. Hierauf kam einige Bewegung in ihn, aber nicht viel; er schüttelte den Kopf.
    „Ahija – o wehe!“ klagte er.
    Hierauf sah man, daß er eine Anstrengung machte, nachzudenken. Es gelang.
    „Ja charami – o du Spitzbube!“ rief er aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute.
    Es ging ihm also eine Ahnung auf, daß die Pflaumen nicht von selbst heruntergefallen seien.
    „Iil'an Daknak – verflucht sei dein Bart!“ schimpfte er, und als er den Täter nicht erblickte, fügte er noch viel zorniger hinzu: „Allah jelisak borneta – Allah setze dir einen Hut auf!“
    Mit diesem Wunsche leistete er sich die allergrößte Schande für den Dieb. Wer einen europäischen Hut, vielleicht gar einen hohen Zylinder, okzidentalisch ‚Angströhre‘ genannt, aufgewünscht bekommt, mit dessen Ehre ist es nach streng orientalischen Begriffen ganz gewiß für immer aus! Nun griff der lange Mensch unter die Mütze und rieb sich die Stirn. Er tat dies einigemal. Wahrscheinlich wollte er die Antwort auf die Frage, wer der Spitzbube wohl sein könne, herausreiben. Es gelang ihm aber leider nicht.
    „Allah ja'lam el gheb – Allah kennt das Verborgene!“ seufzte er endlich erleichtert.
    Das war das einzige und, wie es schien, ihn sehr

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